Geschenk für die Welt

Ernst Schwarzmüller wird gezwungen eine Therapie bei Franziska Hummel zu nehmen. Zu seinem Glück, denn Frau Hummel ist die schönste Biene von ganz Linz. Wie ein Teenager verliebt sich der Mitte Vierziger Hals über Kopf in seine Therapeutin. Leider landen die beiden dann im Bett. Am darauffolgenden Morgen erzählt Franziska, dass sie einen blöden Streit hatte – und zwar mit ihrem Ehemann.

Bis zu diesem Erlebnis war Ernst mit seinem Leben mehr oder weniger zufrieden. Vielleicht ein bisschen mehr weniger und ein bisschen weniger mehr – aber zufrieden. Aber dann wurde es dunkler und dunkler. Ernst wurde ernst und immer ernster bis er diesen einen Geistesblitzhatte: Die Lösung für all seine Probleme.

Darf ich vorstellen ..


Ernst Schwarzmüller verdient seine Brötchen als Künstler. Optisch wird er als Mitte Vierzig mit Waschbärbauch und schönen Augen beschrieben. Zu seinen Charaktereigenschaften zählen chaotisch, nicht sonderlich motiviert, trinkfreudig, sympathisch, liebenswert. Er wohnt in der Dametzstraße 8. Dabei befindet sich sein zweites Wohnzimmer in der Bürgerstraße 21: Sein Stammlokal "Andy's Cool".

Franziska Hummel istdie schönste Biene von Linz und Psychologin und in der Scharitzerstraße 5. Sie ist es, die Ernst den Kopf verdreht. Abgesehen von ihrem professionellen, berufsbedingten Verhalten bleiben ihre Charakterzüge lange verborgen, bis es dann zu einem herzerwärmenden Treffen mit Emilia Goldberg kommt.

Emilia Goldberg wohnt am Pöstlingberg in vielleicht der größten Villa von Linz. EineÄltere, verwitwete, reiche und engelhafte Dame die unseren lieben Ernst in seiner Tätigkeit als Künstler unterstützt, indem sie ihm ihr Atelier in der Mozartstraße 28 zur Verfügung stellt. Auch finanziell greift sie ihm unter die Arme. Im Laufe der Geschichte freundet sie sich mit der Mutter von Ernst und Franziska Hummel an.

Die Mutter von Ernst ist jahrelang mit ihrem Sohn zerstritten, bis es zur Begegnung mit Emilia Goldberg kommt. Seitdem treffen sich die Ernst und seine Mutter wieder regelmäßig ein paar Mal im Jahr. Wenn seine Mutter einen Monolog startet, dann wird es schwierig für das Gegenüber wieder zu Wort zu kommen. Wahrscheinlich der Hauptgrund, warum bis zum Schluss Sohn und Mutter ein eher kühleres, wenn auch ausgesöhntes Verhältnis pflegen.

Anna-Marie blitzt in dieser Geschichte immer wieder in diversen Rückblenden auf. Sie ist in gute Zuhörerin. So ist sie eine ideale Gesprächspartnerin für die Mutter von Ernst. Generell geht hervor, dass sie eine liebevolle Frau ist. Ernst denkt immer wieder gerne an seine damals geliebte Anna-Marie zurück. Wenn er es damals zu Studienzeiten nicht versaut hätte, wären die zwei längst glücklich verheiratet. Er hat es aber leider versaut.

Klaus ist der beste Freund von Ernst, Vater von Felix und späterer Freund von der Kellnerin Tanja. Mit ihm kann Ernst über alles reden. Etwas überrascht wird man als Leser in einem späteren Kapitel, warum Klaus so viel Geld verdient.

Richard, Otto und Mario. Als treue Saufkumpanen und in ihrer Funktion als Hobbypsychologen sind sie für Ernst nicht ganz ernst zu nehmende aber humorvolle, liebenswerte Lebensberater.

Tanja bedient im Skygarden Gäste wie zum Beispiel Ernst und Klaus. Ihr Äußeres bedient wunderbar das Schubladendenken für vollbusige Blondinen. Auch Ernst bastelt sich seine Vorurteile, ohne sie vorher richtig kennengelernt zu haben.

Felix ist derSohn von Klaus und "Neffe" von Ernst. Auch wenn Ernst und Felix nicht verwandt sind, so wird Ernst in diesem Verhältnis als cooler "Onkel" beschrieben.

Lisa geht schon acht Jahr mit Felix in dieselbe Klasse.Ist sie seine Freundin, oder doch nur ein Freund?

Herr Vogel hat eine schmerzhafte Begegnung mit einer Leinwand und bekommt dafür unverschämt viel Schmerzensgeld.

Jakov und Neva. Ein kroatisches Ehepaar, die Emilia Goldberg bei der Gartenarbeit helfen. Ernst darf/muss für einen Sommer lang mit den beiden Unkraut ausreißen, Rasen mähen und Hecken schneiden.

Kapitel 1 | Graue Vorbereitungen

Wenn Sie einen Blick in meinen Kleiderschrank werfen würden, könnten Sie zu dem Schluss kommen, dass Grau meine Lieblingsfarbe sei. Das stimmt aber so nicht. Falls Sie mich danach fragen würden, was denn meine Lieblingsfarbe wäre, würde ich vermutlich bunt antworten. Ja, bunt ist gut - das ist irgendwie witzig und nicht zu konkret. Für meinen Kleiderschrank ist die Beschreibung allerdings gänzlich unpassend.

Für heute wird es die graublaue Jeans kombiniert mit dem aschgrauen Sweater, den ich gefühlt vor zwanzig Jahren zu Weihnachten bekommen habe. Meine Mutter hat ihn mir damals geschenkt mit den Worten, dass ich damit schick aussehe - und die Farbe sei auf jeden Fall zeitlos. Damit kannst du eigentlich nichts falsch machen. Tja, aber so richtig richtig kann man damit auch nichts machen.

Kurz vor Acht. In wenigen Minuten habe ich mich heute für mein Outfit entschieden. Das ist neuer Rekord. Dabei ist es für heute durchaus von Bedeutung, was ich anziehe. Schließlich machen Kleider Leute, beziehungsweise machen Leute Kleider, damit andere Leute sich von der besten Seite zeigen können. Heute ist das auf jeden Fall mein Ziel. Vor unserer letzten Begegnung war ich leider total unvorbereitet. Wie konnte ich auch ahnen, dass sie so gut aussieht? Ein schlanker Körper mit kurvigen Wölbungen genau an den Stellen, wie es sich ein Mann erträumt. Und dann noch dieses Lächeln, das man so nur aus diversen Zahnpasta-Werbungen kennt.

Sie ist auf jeden Fall der Grund, warum ich heute fast schon mit Freude meinen Wecker vernommen habe und mit Elan ins Badezimmer geschlurft bin. Auf jeden Fall war es das höchstzugelassene Tempo für einen Morgenmuffel - und ich bin ein Morgenmuffel par excellence.

Viertel nach Acht. Ich betrachte mein Spiegelbild. Glattrasiert, den Kampf mit meinem Haar gewonnen und wenn ich die Luft anhalte, sieht man von meinem Waschbärbauch eigentlich gar nichts. Dann könnte man schon fast meinen, wenn man weiter weg steht und es schon etwas dämmrig ist, dass da ein sportlicher Typ Mitte Vierzig steht - und das mit Mitte Vierzig stimmt sogar.

Kapitel 2 | Du liebe Zeit

Jetzt gilt es nur noch, etwas Zeit totzuschlagen. Um elf Uhr habe ich dann den Termin bei ihr. Bei Franziska Hummel. Hummel, der Name passt eigentlich gar nicht zu ihr. Biene würde da schon besser passen. Diesen genialen Wortwitz habe ich auch bei unserer ersten Begegnung zum Besten gegeben. Sie sei doch eine kesse Biene, war mein honigsüßer Kommentar. Ihre Antwort darauf war nicht ganz so originell. Sie meinte nur, dass ich also der Herr Schwarzmüller sei und sie würde nun auch noch meine Adresse benötigen. Für die Rechnung, und damit das alles seine Richtigkeit hat. Natürlich, das könne ich verstehen, und mein Vorname sei übrigens Ernst, bin aber nicht immer ernst. Das hat sie zumindest mit einem Lächeln quittiert.

Heute ist nun unser zweites Date. Sie wird unser Treffen wahrscheinlich eher mit"Termin" oder"Sitzung" titulieren, aber vielleicht verwendet sie zumindest den Terminus"unser" dabei. Das stelle ich mir jetzt einfach einmal so vor. Sie hat schließlich nach unserer letzten Begegnung gesagt, dass sie sich freuen würde, mich wieder zu sehen. Ich würde mich auch wieder freuen, habe ich erwidert. Sehr habe ich dabei weggelassen, das wäre nicht professionell gewesen.

Kurz vor halb neun. Das ist doch schlimmer als damals vor Weihnachten. Kennen Sie das auch? Wenn man sich auf etwas freut, dann vergeht die Zeit nicht. Dann will man in immer kürzeren Abständen wissen, wie spät es ist. Bis die Abstände so kurz werden, dass man fast schon der Meinung ist, die Zeit habe sich gegen einen verschworen und gehe nun absichtlich rückwärts. Verrückt. Und wenn man nicht schon verrückt ist, dann könnte man es fast werden. Ich kann es nicht mehr werden, denn ich bin es schon. Nein, so krass ist es zum Glück nicht, aber ich gehe immerhin zum Vogerldoktor, also zum Psychiater. Genau genommen zur Psychiaterin. Richtig geraten - zu Frau Doktor Franziska Hummel (der kessen Biene).

Gerne erzähle ich das allerdings nicht herum - also, dass ich zur Psychiaterin gehe. Dem Klaus habe ich das dann schon erzählt, denn der Klaus ist sozusagen mein bester Freund und der versteht das auch. Muss er sozusagen. Das sind die ungeschriebenen Gesetze einer Freundschaft, habe ich ihm erklärt, nämlich dass sich Freunde alles erzählen. Dass er es dem Richard, dem Otto und dem Mario auch erzählt hat, war so von meiner Seite her nicht vorgesehen. Das sind nicht so richtig beste Freunde, eher so Saufkumpanen, mit denen man dann eher Saufgeschichten austauscht. Klaus rechtfertigte sich damit, dass man doch Freunden alles erzähle. Touché.

So habe ich ihnen lang und breit alles erklären müssen. Vor allem breit, denn das waren wir wieder einmal. Was man denn da so mache, bei einer Psychiaterin, wollten sie wissen und was denn der Spaß so kosten würde. Ja, das war lustig - zumindest für Klaus, Richard, Otto und Mario. Richard hat mir sogleich ein Angebot unterbreitet, dass er das sicherlich auch gut könne - das mit dem Zuhören und so. Günstiger wäre es auf jeden Fall für mich, schließlich würde ihm eine Kiste Bier genügen. Otto hat das Angebot sogar getoppt und gemeint, dass er für ein Sechsertragerl zu haben wäre. Ich entschied mich dann für den Vorschlag von Klaus. Er meinte, ich könne doch hier und heute eine Runde bezahlen. Da hätte jeder etwas davon. Mario fügte noch hinzu, wenn ich selbst mittrinken würde, dann verschwinden meine Probleme ganz von alleine. Und wenn sie noch nicht ganz verschwunden sind, dann sei das nur dem Zustand geschuldet, zu wenig getrunken zu haben.

Kapitel 3 | Ein Glaserl Wein

Die Strategie, mit Alkohol Probleme zu vernichten geht allerdings nicht hundertprozentig und vor allem nicht besonders nachhaltig auf, denn am nächsten Morgen gesellen sich zu den Problemen, die über Nacht leider nicht verschwunden sind, noch zwei neue hinzu: Kopf- und Bauchweh. Gestern war es besonders heftig. Das Rendezvous mit der Toilette dauerte über eine Stunde. In verschiedenen Stellungen – vorne und hinten – habe ich mich symbolisch, oder eigentlich sehr plastisch, meiner Sorgen entledigt.

Das mit dem Alkohol hat Frau Doktor Hummel auch angesprochen. Ich solle doch einmal eine Woche ohne Alkohol versuchen, und schauen, wie es mir dabei gehen würde. Ich erklärte ihr, dass das leider kommende Woche gänzlich unmöglich sei, weil ja da meine Mutter Geburtstag hätte. Wir stoßen dann auch immer mit einem Glaserl Wein an und da wären schon alle sehr verwundert, wenn ich mit einem Himbeersaft dastehen würde. Sie würden mich fragen, was denn in mich gefahren wäre. Und dass ich nichts trinke, kombiniert mit der Nachricht dazu, dass ich zu einem Psychiater gehe, das wäre zu viel für meine Mutter. Vor allem Zweiteres. Das muss ich ihr an einem anderen Tag beibringen. Und zwar schonend – also bei einem Glaserl Wein.

Frau Doktor Hummel gab mir aber trotzdem noch den Gedankenanstoß mit auf den Heimweg, den Gedanken nicht abzustoßen, über mein Leben und so manche mehr oder weniger sinnvolle Tätigkeiten nachzudenken.

💡 Überlegen Sie sich, ob es Tätigkeiten in ihrer Freizeit gibt, die Sie immer wieder tun, obwohl Sie wissen, dass sie Ihnen Ihre Energie rauben. Spielen Sie mit dem Gedanken, diese Tätigkeit für einen überschaubaren Zeitraum zu reduzieren und genießen Sie dabei das Gefühl, dass Sie Herr der Lage sind und nicht umgekehrt.

Sie wollen doch nicht Sklave einer schlechten Angewohnheit sein. Nein! Sie wollen ihre wertvolle Zeit für wunderbare, energiespendende Tätigkeiten verwenden. Sie entscheiden – Sie sind der Chef!

Ich habe das einmal für mich übersetzt: Ich solle für einige Wochen oder Tage, zumindest für ein paar Stunden weniger Alkohol trinken und nur in kleinen Mengen. Bier eignet sich daher nicht besonders gut, weil man dieses Getränk bekanntlich aus einem Halbliter-Gefäß konsumiert. Schnaps, Tequila oder Wodka sind jedoch bestens dafür geeignet in kleinen Mengen genossen zu werden. Und das ist auch irgendwie bewundernswert, wenn man nach zehn so kleinen Dingern noch Herr der Lage ist. Also wenn man dann noch deutlich"Zahlen, bitte!" lallen kann, dann ist das schon auch irgendwie bewundernswert. Irgendwie.

Irgendwie hatte ich so das Gefühl, dass ich mit dieser Überlegung nicht so ganz punkten konnte bei ihr. Nicht bei Frau Dr. Hummel als meiner Psychiaterin und schon gar nicht bei Franziska als meiner Traumfrau. Darum habe ich ihr fürs erste einmal Recht gegeben, und nachdenken könne man natürlich sowieso einmal darüber, habe ich ihr versprochen.

Kapitel 4 | Schön langsam

Halb neun. Normalerweise schlafe ich um diese Zeit noch. Manchmal befinde ich mich zu dieser unchristlichen Zeit erst in der ersten Tiefschlafphase. Aber was ist schon normal? Ich bin es auf keinen Fall, und die letzte Woche sowieso nicht. Da habe ich nach langer Zeit wieder einmal mit dem Gedanken gespielt, eventuell meiner Arbeit nachzugehen. Ich ertappte mich sogar dabei, mir zu überlegen, wann ich damit anfangen wolle. Nein, soweit ist es dann nicht gekommen, dass ich dann auch wirklich und in echt produktiv wurde, aber mit dem Gedanken gespielt habe ich. Und überstürzen darf man da sowieso nichts.

Dreiviertel neun. Eigentlich erst zwanzig vor neun, aber ich versuche mir die Zeit schön zu reden. Schön zu saufen, erlaube ich mir heute nicht, denn in gut zwei Stunden muss ich fit sein. Da möchte ich bei Franziska einen großartigen Eindruck hinterlassen. Nach unserem heutigen Treffen wird sie sich hoffentlich denken, dass der Herr Schwarzmüller - nein besser, der Ernst, sich seit dem letzten Mal aber gewaltig gemausert hat. Wenn man, beziehungsweise frau, das dann weiter hochrechnet, könnte dieser Ernst als ein potenzieller Kandidat zum Heiraten angesehen werden, oder frau könnte zumindest in Erwägung ziehen mit ihm einmal einen Kaffee zu trinken.

Dreiviertel neun. Ich könnte mich schön langsam auf den Weg machen. Schön und langsam - ja, das könnte ich schaffen. Schön bin ich für meine Verhältnisse, und langsam ist sowieso eine Paradedisziplin von mir. Also rein in mein anthrazitgraues Sakko und meine dunkelgrauen Waldviertler. Eine gute Mischung aus sportlich und elegant – wie ich meine. Und vor allem zeitlos.

In der Straßenbahn habe ich dann einer älteren Dame äußerst galant meinen Sitzplatz angeboten. Sie schenkte mir ein Lächeln und bedankte sich mit den Worten, schön, dass die wahren"Gentlemänner" noch nicht ausgestorben sind, und noch dazu so elegant gekleidete. Auch wenn sie nicht unbedingt in mein Beuteschema fiel, so bin ich doch gefühlt um ein bis zwei Zentimeter gewachsen. Und wer weiß, vielleicht bekomme ich von Franziska an diesem Tag noch ein ähnliches Kompliment.

Kurz nach halb zehn bin ich dann schon an der Goethekreuzung angekommen. Jetzt sind es nur noch knapp 300 Meter bis zur Scharitzerstraße 5, dann werde ich meinen Zielort erreicht haben. Diese Distanz in knapp anderthalb Stunden ist sogar für meine Verhältnisse zu kurz. Da würde es sich ausgehen, noch zum Bosnereck zu gehen. Das wäre dann schon wieder fast bei mir zu Hause, also auch wieder irgendwie idiotisch. Außerdem möchte ich Franziska nicht mit einer Knoblauchfahne begrüßen.

So entschied ich mich, noch eine Runde im Volksgarten spazieren zu gehen. Aus der einen Runde wurden dann sogar fünf, und mit jeder Runde machte es mir mehr Freude. Erstens nahm die Vorfreude zu, denn mit jeder Runde kam ich meinem Ziel näher, dass der Linzer Dom seine Glocken elfmal läuten lassen würde. Zweitens entdeckte ich in jeder Runde neue Details auf dem Weg. So habe ich zum Beispiel erst in der dritten Runde festgestellt, dass am Wegrand die ersten Krokusse blühten. Vielleicht sind sie aber auch erst nach Runde zwei aufgetaucht.

Dreiundzwanzig Minuten vor elf. Die Assistentin der Gemeinschaftspraxis meinte, dass ich schon sehr früh da sei, aber ich könne gerne schon einmal im Wartezimmer Platz nehmen. Ich erklärte ihr, dass ich gerade in der Gegend gewesen sei, und extra noch einmal nach Hause gehen, hätte sich nicht ausgezahlt. Das stimmte ja auch so irgendwie.

Und dann – nach einer gefühlten Ewigkeit – öffnete sich die Tür."Hallo, Ernst! Schön, dass du wieder da bist. Du hast mir schon gefehlt!" So, oder so ähnlich hatte ich mir gedacht, dass Franziska mich begrüßen würde. Vielleicht wollte sie neben der Assistentin nicht unprofessionell klingen, vielleicht war sie auch zu schüchtern. Jedenfalls entschied sie sich doch für ein eher formelles"Grüß Gott, Herr Schwarzmüller. Bitte eintreten!"

Kapitel 5 | Gravierende Veränderungen

So ganz entspannt war ich nicht. Meine feuchten Hände und ein mulmiges Gefühl in der Bauchgegend unterstrichen diesen Gemütszustand. Ein Grund dafür war, dass vor mir meine Traumfrau Franziska saß. Ein weiterer Grund meines nervösen Zustandes war die Tatsache, dass besagte Frau gleichzeitig auch meine Therapeutin war.

"Wie geht es Ihnen heute?" Frau Doktor Franziska Hummel eröffnete professionell unsere zweite Sitzung. Natürlich wäre mir der Zustand lieber, wenn mir diese Frage von derselben Dame bei einem offiziellen Date gestellt würde.

"Danke, gut!" Das war für meine aktuelle Gefühlslage ziemlich eloquent, wie ich meine. Ich hatte auch keine Ahnung, wie diese Frage aus therapeutischer Sicht gemeint war. Für ein Date war die Antwort auf jeden Fall gut gewählt. Kurz, knapp und verwegen. Anscheinend hatte meine Antwort doch etwas zu viel Spielraum offengelassen, darum stellte Frau Doktor die nächsten Fragen:

"Wie war die letzte Woche? Haben Sie irgendeinen Unterschied feststellen können?"

"Ja, ich bin seit einer Woche total verknallt, und zwar in dich, liebe Franziska", das wäre eine wahrheitsgemäße Antwort gewesen, war aber wahrscheinlich nicht genau das, was sie hören wollte. Abgesehen davon darf man das einer Frau nicht zu früh sagen, denn dann wird man uninteressant. Wenn man eine Frau erobern will, darf man nicht zu schnell zum Super-Romantiker werden. Oft wollen uns die Frauen weismachen, dass sie ach-so-gerne einen wahren Romantiker haben wollen, aber wenn man diese Karte zu schnell ausspielt, hat man schon vor der ersten Runde verloren. Mein Tipp: So ungefähr zur Silbernen Hochzeit eine Blume schenken und dann aber schon eine Rose – eventuell sogar eine rote.

Doktor Franziska Hummel wiederholte noch einmal:"Haben Sie eine Änderung in ihrem Alltag bemerkt?"

"Also die letzte Woche betreffend hat sich in meinem Alltag noch nichts gravierend verändert!"

"Gravierende Veränderungen sind auch eher selten in einem so kurzen Zeitraum. Wie haben Sie diese Woche geschlafen?"

"Eigentlich so wie immer." Eigentlich habe ich mich teilweise noch länger und öfter im Bett hin- und her gewälzt, bis ich einschlafen konnte. Das war aber dem Zustand geschuldet, dass ich die ganze Zeit an sie denken musste.

"Wie geht es Ihnen mit dem Alkohol?" Also mit dem Alkohol geht es mir gut, ohne ist das Problem dachte ich mir. Dünnes Eis, sehr dünnes Eis. Ich entschied mich dann für eine diplomatische Variante:

"Es gibt Tage da geht es mir besser mit dem Alkohol und an manchen Tagen geht es mir nicht so gut – also mit diesem Thema meine ich."

"Was sind denn so die kritischen Tage?"

"Das ist sehr unterschiedlich." Betretenes Schweigen."Je nachdem."

"Je nachdem?"

"Ja, je nachdem welcher Wochentag ist. Montag bis Mittwoch zum Beispiel lassen wir manchmal aus und donnerstags sind wir auch eher selten unterwegs und dann gibt es auch Freitage, Samstage und Sonntage, an denen wir uns nicht immer treffen. Also so genau kann man das nun auch nicht beantworten." Das war glaube ich taktisch ganz klug, dass ich da von wir und uns gesprochen habe – sozusagen meine Saufkumpanen miteingebaut habe. Schließlich bin ich dann nicht so ganz alleine schuld, wenn wir wieder einmal ein Bier zu viel trinken.

Gedankenlos fügte ich noch hinzu:"Und je nachdem wie unser Gemütszustand so ist." Das war wahrscheinlich taktisch nicht ganz so klug. Die nächste Fangfrage kam prompt:

"Wie würden Sie Ihren Gemütszustand beschreiben, wenn Sie ein Verlangen nach Alkohol verspüren?" Oje, da haben wir den Salat. Keine Ahnung, was darauf die richtige Antwort ist. Man hat halt Durst, und trinke deswegen ein Bier. Und manchmal trinkt man noch eins und manchmal trinkt man dann halt auch über den Durst. Aber was man dabei für einen Gemütszustand hat …

"Wie fühlen sie sich, wenn sie etwas trinken wollen?"

"Durstig!" Das entlockte sogar Franziska ein kurzes Lächeln. Den Moment musste ich sofort in meinem Hippocampus abspeichern. Ein schönes Bild.

Kapitel 6 | Eine schöne Atemübung

Das Thema Alkohol hatten wir nun in der Therapiesitzung zur Genüge abgehandelt – meiner Meinung nach. Doktor Franziska Hummel sah das allerdings anders.

"Wollen Sie mir etwas über Ihre Gefühle und Gedanken sagen, wenn Sie das Bedürfnis verspüren, Alkohol zu trinken?" Doktor Franziska Hummel fuhr mit ihren unangenehmen Fragen fort.

"Ich glaube, dass ich mir das in Ruhe zu Hause überlegen muss. Dazu kann ich so spontan eigentlich gar nichts sagen. Aber ich hätte da noch eine Frage." Sie schaute mich fragend an.

"Das mit der Atemübung …"

"War das schon Ihre Frage?"

"Das mit der Atemübung … so ganz funktioniert das noch nicht bei mir."

"Haben Sie es versucht?"

"Naja - ich habe sicherlich ein paar tausend Mal in dieser Woche geatmet." Ihrem Blick nach zu urteilen, fand sie diese Meldung nicht ganz so witzig, darum fügte ich schnell hinzu:"Und die Übung habe ich fast jeden Tag versucht. Doch das waren bisher eher klägliche Versuche. Könnten Sie mir da noch einmal behilflich sein? Bitte!"

Bei unserem ersten Treffen war diese Atemübung mein persönlicher Höhepunkt gewesen. Sie hatte gemeint, dass man in den Bauch hinein atmen solle und mir dabei ohne Vorwarnung auf meinen gegriffen. Vor lauter Schreck hatte ich diesen gleich einmal eingezogen und gänzlich auf das Atmen vergessen. Ganz tief in den Bauch hinein atmen und sich dabei entspannen, hatte sie mir mit ruhiger, fast schon erotischer Stimme erklärt. Ich solle doch meine Hand auf den ihren legen, damit ich es spüren könne. Diese Einladung habe ich gerne angenommen. So eine schöne Übung - diese wollte ich heute unbedingt wiederholen.

"Irgendwie schaffe ich diese Übung noch nicht so ganz …" und nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu"… alleine."

"Wir können die Übung gerne heute noch einmal wiederholen." Dabei hielt ich für mich fest, dass sie das Wort gerne verwendet hatte. Schließlich hätte sie ebendiesen Satz auch ohne Adverb formulieren können.

Nach viel zu wenigen Minuten beendete sie die Übung allerdings schon wieder. Ich solle bis zur nächsten Sitzung zu Hause weiter üben. Viel wichtiger seien jedoch meine aktuellen Gefühle und Gedanken. So nahm ich wieder auf meinem Sessel Platz. Nicht auf einer Couch, so wie ich es mir in meiner Fantasie ausgemalt hatte. In meiner Fantasievorstellung gab es auch hundert Mal so viele Bücher, einen alten, bärtigen Psychiater, dafür aber keine Spielzeugfiguren. Haben Sie eine Ahnung, wofür man Spielzeugfiguren in einer Therapiesitzung benötigen könnte? Ich bis dato auch nicht. Darum fragte ich auch kurzerhand. Als Antwort stellte mir Frau Hummel eine Gegenfrage:

"Welches Tier würde ihren Vater am besten beschreiben?"

"Ich soll meinen Vater mit einem Tier vergleichen?"

"Ja, und das am besten ganz spontan, ohne dabei großartig nachzudenken!"

"Elefant." Sie holte aus der Figurensammlung ein rüsseliges Grautier hervor.

"Okay, was denken Sie sich dabei? Was verbindet ihren Vater mit einem Elefanten?"

Gar nichts habe ich mir gedacht. Genau, wie sie es von mir verlangt hatte. Das kann ich übrigens ganz gut, nicht großartig über etwas nachdenken. Allerdings fragte ich mich gerade, warum ich diese Therapie überhaupt begonnen hatte. Eigentlich war, beziehungsweise bin ich mit meinem Leben mehr oder weniger zufrieden. Vielleicht ein bisschen mehr weniger und ein bisschen weniger mehr – aber zufrieden. Stellen Sie sich vor alle Menschen wären zufrieden mit dem, was Sie sind und haben. Dann gäbe es viel mehr Frieden auf unserer Welt.

💡 Versuchen Sie doch einmal all das zu sehen, was Sie schon haben. All das Materielle, aber vor allem Ihre Beziehungen zu Menschen. Wenn Sie sich einmal in Ruhe hinsetzen, dann fallen Ihnen bestimmt viele Personen ein, die Ihnen wohlgesonnen sind und wahrscheinlich fallen Ihnen noch viel mehr Dinge ein, die Sie besitzen.

Da kann man doch zufrieden sein, zumindest für einen kleinen Moment. Wenn Sie das schaffen, haben Sie sich selbst vielleicht so etwas wie einen Glücksmoment geschaffen. Natürlich darf man auch gleichzeitig immer wieder versuchen seine persönlichen Grenzen auszuweiten, um sein ganzes Potential ausschöpfen zu können.

Kapitel 7 | Letzte Chance

Wenn man sein Potential voll und ganz ausschöpft, also alles gibt, besteht dann nicht die Gefahr, dass danach nichts mehr übrigbleibt? Eigenartige Frage, aber da will ich lieber auch nichts riskieren, also gar nicht erst anfangen mit ausschöpfen und hergeben. Emilia Goldberg hatte das aber anders gesehen.

Sie wollen wissen, wer denn diese Dame nun schon wieder ist? In aller Kürze: Sie ist eine etwas ältere, verwitwete, reiche Dame. Eine sehr reiche Dame, die es sich sogar leisten kann, einen armen Künstler wie mich immer wieder einmal finanziell zu unterstützen.

Diese besagte Emilia Goldberg vertrat die Meinung, dass ich mit meinem Talent auch so etwas wie Verantwortung mitbekommen habe. Auf jeden Fall müsse sich bei mir etwas ändern, denn so könne es nicht mehr weitergehen, dass ich dieses Talent so vergeude. So hatte sie mich dazu animiert, besser gesagt dazu gezwungen, Therapiestunden zu nehmen. Ihrer Meinung nach könnte das eine gute Chance für mehr Elan bei meiner Arbeit sein. Vielleicht würde sogar meine ursprüngliche Kreativität wieder zurückkommen – die würde sie nämlich schon vermissen. Die künstlerische Schaffenspause dauere auf jeden Fall bedenklich lange.

Ich hatte ihr nur entgegnet, dass sich das für mich nicht so konstruktiv und produktiv anhöre. Schließlich könne ich in der Zeit wo ich dann in der Therapie sitze kein Bild malen. Und abgesehen davon hätte ich für so einen Schnickschnack sowieso kein Geld. Sie hatte dann noch gemeint, dass abseits von diesem Schnickschnack noch mehr als genügend Zeit vorhanden wäre, um wieder einmal ein paar Pinselstriche zu tätigen. Dann drückte sie mir ein paar grüne Scheine in die Hand - mit den unmissverständlichen Worten, dass das nun meine letzte Chance sei.

Am Nachhauseweg von Emilia Goldberg wurde es dann spannend. Ich erhöhte mein Tempo um mit Schwung den Einkehrschwung in mein Stammlokal zu vermeiden. Mein Puls wurde merklich höher und meine Hände begannen zu schwitzen. Da gingen sich locker zwei Lokalrunden aus mit dem Geld, das sich in meiner Hosentasche befand. Eine teuflisch, liebliche Stimme säuselte mir lieblich ins Ohr, dass ich diesen finanziellen Bonus ausnutzen sollte. Gleichzeitig sagte eine engelhafte Stimme mit sanfter Strenge, dass ich mich schnellstmöglich aus dem Gefahrenbereich"Andy's Cool" entfernen sollte, um nicht das nächste Schlamassel heraufzubeschwören. Im Endeffekt entschied dann die Stimme von Richard, der mich dabei ertappte, wie ich schon fast ums Hauseck abgebogen wäre.

"Hallo Ernst, was machst du da? Du willst dich doch nicht etwa vorbeischleichen?"

Nein, das wollte ich natürlich nicht. Im Gegenteil, ich hatte doch heute meine Spendierhose an. So zahlte ich ihm ein Bier. Und dann noch eins und noch eins. Irgendwann kamen wir dann zu dem Punkt, wo ich nicht mehr so sicher war, ob Emilia von einer letzten oder doch eher von einer vorletzten Chance gesprochen hatte. Richard war sich ganz sicher, dass die alte Dame mir auch weiterhin aus der Bredouille helfen würde – das habe nun schon so viele Jahre funktioniert, warum solle das auf einmal anders werden, war seine glasklare Argumentation. Das klang vernünftig. Der Ausgang des Abends war allerdings alles andere als vernünftig.

Am nächsten Morgen - nach der ausführlichen"Besprechung" mit Richard – machte ich den Fehler und schielte auf mein Handy. Mit verschlafenem Blick stellte ich fest, dass ich von Emilia Goldberg ein SMS erhalten hatte. Im nächsten Moment war ich hellwach. Die Zeilen waren die Bestätigung dafür, dass sie doch tatsächlich von der letzten und nicht einer vorletzten Chance gesprochen hatte. Sie teilte mir mit, dass ich gestern im Andy's Cool gesehen worden wäre, und dafür wäre das Geld definitiv nicht vorgesehen gewesen. Sie habe nun einen Termin bei Dr. Hummel in der Scharitzerstraße 5 am kommenden Montag um 11. 00 vereinbart. Wenn ich zu diesem Termin nicht erscheinen würde, müsse ich in Zukunft ohne ihre finanzielle Unterstützung auskommen. Ohne Smiley.

Kapitel 8 | Elefant

"Sind Sie noch da?" Franziska Hummel schmunzelte. Verlegen schaute ich mich um. Ich saß immer noch in der Praxis meiner Psychotherapeutin und versuchte mich zu konzentrieren.

"Oh, entschuldige. Ich glaube, dass ich gerade etwas in Gedanken versunken bin."

"Sie sind sogar, glaube ich, richtig abgetaucht. Fast hätte ich geglaubt, ich muss Sie wiederbeleben." So ein Mist, dachte ich mir, da hätte ich mich noch einen Moment lang bewusstlos stellen sollen, dann wäre da vielleicht eine Mund-zu-Mund-Beatmung drinnen gewesen.

"Also zurück zum Elefanten. Was sind denn typische Eigenschaften von einem Elefanten, die auf Ihren Vater zutreffen?"

"Etwas zu dick, träge, tollpatschig, … ja, das trifft auf meinen Vater zu …" und in meinem Kopf fügte ich noch hinzu"… und auf mich ebenfalls".

"Stört Sie das, dass ihr Vater solche Eigenschaften hat?"

"Nein, das ist mir ziemlich egal. Wir haben auch kaum Kontakt, seit er sich von meiner Mutter scheiden lassen hat." Aber dass ich diese Eigenschaften anscheinend von ihm geerbt habe, störte mich schon.

"Ein Elefant ist auch bekannt dafür lernfähig zu sein. Trifft das zu?"

"Eher nicht", stellte ich traurig fest.

Sie fragte mich dann auch noch, ob ich meiner Mutter schon erzählt hätte, dass ich eine Therapie in Anspruch nehme. Ich erklärte ihr, dass es dafür noch keinen geeigneten Zeitpunkt gegeben habe. Da müsse man meiner Mutter Zeit lassen. Franziska meinte, dass sie das natürlich verstehen könne, fügte aber noch hinzu, wenn sie meine Mutter wäre, dann würde sie begrüßen, von der Therapie ihres Sohnes zu erfahren. Sie würde sich sogar darüber freuen. Schließlich sei das ein mutiger Schritt. Franziska ist aber nicht meine Mutter – zum Glück.

Ich erwähnte weiters, dass das Reden über so heikle Themen nicht so einfach sei in meiner Familie – also das Thema Alkohohl und so. Dafür benötige es den richtigen Zeitpunkt, den richtigen Raum und die richtige Verfassung – beider Gesprächspartner. Ja, und dass das alles auf einmal zutreffe, das sei dann schon ein großer Glücksmoment und den gibt es halt auch nicht so oft. Auf jeden Fall hatte es in jüngerer Vergangenheit keinen solchen gegeben. Sie meinte darauf mit einem Augenzwinkern, dass ich in dem Fall darauf achten solle den nächsten Glücksmoment nicht zu verpassen, denn wer weiß, wann der übernächste kommt.

Mit Franziska hatte ich auf jeden Fall gerade so einen Glücksmoment – sogar eine ganze Glücksstunde. Richtig erschreckt habe ich mich, als ich auf meine Armbanduhr blickte. Nach meinem Gefühl waren erst wenige Minuten seit unserer Begrüßung vergangen. Der Linzer Dom verriet uns allerdings, dass es punkto Zeit punkt Mittag war, und läutete das Ende unserer zweiten Sitzung ein. Ich versprach noch, dass ich mich bessern werde – was ich damit genau gemeint habe, weiß ich selbst nicht so genau. Sie wünschte mir noch alles Gute – was auch einiges an Interpretationsmöglichkeiten offenlässt.

Kapitel 9 | Das Tee-Experiment

So ganz einordnen konnte ich unsere zwischenmenschliche Beziehung noch nicht. Also die Beziehung abgesehen von der Psychiaterin-Patienten-Beziehung. Was denkt Franziska Hummel, wenn sie an Ernst Schwarzmüller denkt? Meinen Humor und meine ungeschminkte Art etwas zu sagen, würde sie schätzen. Das war nett, dass sie das gesagt hat. Darauf könnte man aufbauen – therapeutisch und liebestechnisch.

Meine rosaroten Hoffnungen wurden allerdings wieder etwas getrübt, als sie meine Frage beim Abschied sehr nüchtern beantwortete. Ob sie denn ab und zu gerne einen Kaffee trinken würde, wollte ich wissen. Nein, das tue sie nicht, weil sie lieber Tee trinke. Sie hätte mir dann eigentlich schon eine Gegenfrage stellen können, so von wegen, wie das denn bei mir so sei, ob denn ich gerne Tee trinke. Dazu war sie wahrscheinlich zu wenig spontan, oder wieder einmal zu schüchtern. Ich hätte darauf auf jeden Fall eine Antwort parat gehabt. Nämlich, dass ich so gesehen Tee nicht als mein Lieblingsgetränk bezeichnen würde, in ihrer Gesellschaft hingegen könne es sich aber zu einem solchen entwickeln. Leider hat sie aber nicht gefragt. So trennten sich unsere Wege wieder und es blieb diese rosarote, spannungsgeladene Ungewissheit.

Am Nachhauseweg entschied ich mich dann spontan beim Supermarkt einzukehren, um verschiedenste Teesorten auszuprobieren. Ich war überrascht, wie viele verschiedene Sorten es von diesem Getränk gibt, ganz zu schweigen von den verschiedenen kreativen Produktbezeichnungen: Glückstee, Morgenfreund, Fühl-dich-wohl-Tee, Einschlaftee, Behalt-die-Nerven-Tee … Ich entschied mich, mir bis zu unserem nächsten Treffen ein kleines Fachvokabular zu dem Thema anzueignen, verbunden mit dem Selbstexperiment, mich durch diverse Teesorten zu kosten. Vor allem wollte ich die verschiedenen versprochenen Auswirkungen am eigenen Leib erfahren.

Ausgerüstet mit zehn verschiedenen Packungen Tee begab ich mich geradewegs. . . nein nicht in mein Stammlokal, auch nicht in meine Wohnung, sondern in das Atelier in der Mozartstraße 28. Das ist mein Arbeitsplatz seit vielen Jahren – genauer gesagt seitdem ich Emilia Goldberg begegnet bin. Angekommen im Atelier kochte ich mir zuallererst heißes Wasser. Der Energietee war meine erste Wahl. Kombiniert mit den ohnehin schon vorhandenen wunderbaren Frühlingsgefühlen durchfuhr mich ein wohliges Zucken in den Fingern. Ich griff zum Pinsel und ließ mich von meinem inneren Auge leiten. Anfangs noch etwas zögerlich und dann immer mutiger tanzte meine Hand förmlich über die Leinwand. Kräftige Farben und klare Linien waren das Ergebnis.

Kapitel 10 | Etwas Leben

"Schön."

Vor Schreck fiel der Pinsel zu Boden. Emilia Goldberg stand hinter mir. Ich hatte ganz vergessen, dass auch sie einen Schlüssel zum Atelier hatte. Naturellement, wie wir Künstler gerne sagen, selbstverständlich – es war ja ihr Atelier, in dem ich meine Kunst ausüben durfte.

"Entschuldige, Ernst. Ich wollte dich nicht erschrecken. Wollte mich nur wieder einmal umsehen. Schön, dass du wieder aktiv bist. Lass dich nicht aufhalten!"

"Oh, hallo Emilia. Nein, nein – ich brauche sowieso eine kurze Pause. Magst du einen Tee?" Ich zählte ihr meine Teesorten auf."Welcher darf es sein?"

"Einmal Fühl-Dich-Wohl-Tee, bitte." Sie ließ ihren Blick durch das Atelier schweifen. Auf der linken Seite befand sich eine kleine Teeküche mit einem Tisch und zwei Sesseln und auf der rechten eine alte Couch, die wahrscheinlich schon mindestens zehnmal in ihrem Leben ihren Wohnort gewechselt hatte. An den Wänden hingen meine fertigen, unverkauften Bilder. In der Mitte befand sich das Herzstück – eine Leinwand und ein Tischchen mit verschiedensten Farben und Pinseln.

"Viel hat sich nicht verändert seit meinem letzten Besuch. Wenn du willst, besorge ich bei Gelegenheit eine Pflanze, damit es hier etwas lebendiger wird."

"Die wird aber nicht lang überleben."

"Ich kümmere mich um sie."

"Dann hat sie eine Chance!"

Ich fügte dann noch hinzu, dass ich mich eigentlich schon länger nicht mehr bei ihr – Emilia – bedankt hätte. Dafür, dass ich hier malen durfte, und dass Sie mich finanziell immer wieder unterstützte. Für die Therapie wolle ich mich noch extra bedanken. Das sei eine überaus gute Idee von ihr gewesen. Hoffentlich fiel ihr nicht auf, dass sich bei dem Satz mein Gesicht rötlich färbte.

"Danke, dass du dich so fürsorglich um mich kümmerst, liebe Emilia!" Sie meinte nur, dass sie das gerne machen würde und fügte noch einen interessanten Gedankengang hinzu:

💡 Sich um jemanden zu kümmern ist doch eines unserer urmenschlichen Bedürfnisse. Alleine der Zustand, dass man jemandem eine Freude bereitet, kann auch bei einem selbst ein wunderbares Glücksgefühl auslösen. Wenn dieses Verhalten dann vielleicht sogar Nachahmungstäter findet, dann wird das Zusammenleben mit den Mitmenschen immer herzerwärmender. So wie in dem Buch"Geschenkt" von Daniel Glattauer.

Eines sei aber an dieser Stelle noch erwähnenswert: Es erweist sich für uns Menschen immer wieder als schwierig, Hilfe anzunehmen. So muss man darauf achten, keiner Person seine Hilfe aufzuzwingen. Nicht jeder will das, und man selbst will schließlich auch nicht immer und von jedem Hilfe annehmen.

Ich ließ ihre Worte auf mich einwirken.

"So gesehen haben wir beide dann so eine Art Partnerschaft. Du bist diejenige die sich um mich kümmert, und ich bin derjenige der das aushält."

Kapitel 11 | Ein verführerisches Angebot

Emilia Goldberg ist wie eine Mutter und gute Freundin zugleich. Sie zeigt nach wie vor Verständnis für meine zugegebenermaßen etwas durchwachsene Karriere, gibt mir aber ab und an einen sanften Tritt in den Hintern, wenn ich mich wieder einmal für zu lange Zeit treiben lasse. Wenn ich ihr von meinen Sorgen erzähle, dann hört sie mir richtig zu. Was ich in diesen Gesprächen besonders an ihr schätze, ist dass sie nicht sofort mit tausend Ratschlägen daherkommt. Sie ist grundsätzlich der Meinung, ich solle nur auf mein eigenes Herz hören. Es weiß am besten, was gut für mich ist.

Und dann war da natürlich noch die finanzielle Unterstützung, die ich von ihr bekam, und die war im wahrsten Sinn des Wortes unbezahlbar. Eine alte, sehr nette Witwe kennenzulernen, die sich für Kunst interessiert und dazu auch noch reich ist – das hatte schon einiges von einem Lotto-Sechser. Tatsächlich ist das Wort"reich" im Fall von Emilia sogar etwas untertrieben. Sie könnte sicherlich im Geld baden – ganz im Stil von Dagobert Duck. Weil das Ehepaar Goldberg keine Nachkommen hatte, erbte Emilia das gesamte Vermögen ihres Mannes. Franz Goldberg war ein ziemlich hohes Tier in der voestalpine und bekennender Workaholic gewesen. Er hatte zu Lebzeiten nur gearbeitet und keine Zeit gehabt, sein Geld zu verprassen. In der Pension wollte er um die Welt reisen. Das war der Plan gewesen. Ein Herzinfarkt machte ihm einen tödlichen Strich durch die Rechnung. Drei Wochen nach Pensionsantritt.

Das war nun über zehn Jahre her. Seither hatte sich Emilia Goldberg vermehrt ihrer Leidenschaft gewidmet: der bildenden Kunst. Das Schicksal entschied, dass wir uns auf einer meiner Vernissagen kennenlernen sollten. Dass ihr meine Kunst gefällt, nehme ich ihr ab. In erster Linie waren es aber meine großen, traurigen Augen, die ihren Mutterinstinkt geweckt hatten. Mit gerade einmal vierzig dürfe man nicht so traurig dreinschauen, vor allem nicht, wenn man so ein Talent wie ich besitze, hatte sie mit liebevoller Strenge gemeint.

Ihre Kaufentscheidung an jenem Abend fiel auf"Querelles Byzantines" (Streit um des Kaisers Bart) – mein zu diesem Zeitpunkt prägendstes Werk. Zu dem schönen vierstelligen Betrag gab Emilia noch ein saftiges Trinkgeld dazu und bat mich, ihr das Kunstwerk in den nächsten Tagen in ihre Villa zu liefern. Ich solle dabei auch noch etwas Zeit mitnehmen, denn sie habe eine Idee, mit der sie mich eventuell konfrontieren wolle.

An jenem Abend nach der Vernissage war die reiche Mäzenin natürlich das Gesprächsthema Nummer eins in Andy's Cool. Die Fantasien von Richard, Otto und Mario überschlugen sich. Richard hatte sofort die wüstesten Sexgeschichten auf Lager. Von wegen, dass ich Emilias Liebhaber werden solle, und dann müsse ich dreimal täglich meinen Mann stehen. Mario schwächte das Ganze ab mit seiner Idee, dass ich bei ihr zu Hause"nur" Aktzeichnungen von ihr anfertigen müsse. Sie würde splitternackt vor mir posieren und ich müsse sie zeichnen, aber natürlich so Photoshop-like, also ohne Falten und alles. Otto erklärte uns, dass das in Linz immer mehr zunehme: Ältere, betuchte Frauen zahlen sich junge Männer, damit diese mit ihnen ausgehen. Da gehe es anscheinend wirklich nur um eine nette Gesellschaft, und nicht um irgendwelche Sexgeschichten. Ja, aber wenn das Trinkgeld stimmen würde, fügte Richard hinzu, dann könne man da durchaus auch Sexgeschichte schreiben. Klaus beteiligte sich nicht an der Konversation. Er saß einfach nur da und hatte so ein seltsames, geheimnisvolles Mona-Lisa-Lächeln aufgesetzt. So ein Lächeln, das sagen wollte: Ich freue mich mit dir, Ernst, dass es das Schicksal gerade gut mit dir meint.

💡 Schön, wenn man sich mit jemandem mitfreuen kann, wenn es das Schicksal gut mit dem anderen meint. Viel zu oft ist man allerdings neidisch auf seinen Nachbarn, wenn dieser eine schöne Frau, ein teures Auto und wohlerzogene Kinder hat. Oder? Kennen Sie auch dieses Gefühl?

Dabei schadet man sich doch nur selbst. Wem bringen diese negativen Gedanken etwas? Und was genau? Richtig – niemandem und nichts. Viel schöner ist es doch für einen selbst, wenn man sich mit dem Nachbarn mitfreuen kann. Und wer weiß, vielleicht freut sich dann der Nachbar mit Ihnen mit, wenn Sie im Lotto gewinnen oder einer guten Fee namens Emilia begegnen.

Kapitel 12 | Das Glück hat einen Vogel

Ein paar Tage nach besagter Vernissage lieferte ich die Querelles in die Goldberg-Villa am Pöstlingberg. Emilia Goldberg begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung und hieß mich willkommen. Ob es für mich passend sei, wenn ich zuerst das Kunstwerk in ihrem Salon aufhängen würde, wollte sie wissen. Anschließend könne man dann noch in Ruhe über diese eine Sache reden. Natürlich, das wäre auch in meinem Sinne, versuchte ich besonders geschäftsmännisch zu wirken. Meine Stimme hatte dabei einen leicht nervösen Unterton. Schließlich hatte ich die gesammelten Fantasien meiner Kumpels im Kopf. Welche davon würde es nun werden?

Erraten hatte es letztendlich keiner der Burschen. Das war auch schwer möglich, denn so viel Glück war eigentlich nicht zu fassen. Wie konnte das jemand erahnen, dass mir ein wohlwollender Sponsor ein Atelier zur Verfügung stellen und gleichzeitig mein bester Auftragsgeber werden würde. Warum gerade ich der Auserwählte sei, wollte ich wissen. Das könne sie auch nicht ganz genau erklären. Ich sei zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen und meine sympathische Art hätte schon auch dazu beigetragen. Nicht so wie viele andere Künstler, die entweder zu viel Ego hatten oder vor lauter Angst keinen geraden Satz herausbrachten.

Und ich müsse als Gegenleistung wirklich nichts bieten, bestätigte Emilia Goldberg noch einmal mit einem sehr ehrlich wirkenden Lächeln. Ab und zu würde sie natürlich gerne in ihrem – meinem – Atelier vorbeikommen und mir ein bisschen bei der Arbeit zusehen. Das war für mich kein großes Hindernis. Dann sei also so weit alles geregelt. Ihr Anwalt würde die nötigen Schriftstücke aufsetzen, in denen vereinbart werden solle, dass von nun an Herr Schwarzmüller zu jeder Tages- und Nachtzeit befugt sei, das Atelier in der Mozartstraße 28 zu betreten, um dort seinen künstlerischen Tätigkeiten nachzugehen. Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, fügte sie hinzu, dass sie ungefähr einmal im Monat ein Bild von mir käuflich erwerben wolle. Ich konnte mir die Frage nicht verbeißen, wo sie denn dann all die Bilder aufhängen wolle. Sie meinte nur, dass ich mir darüber meinen kreativen Kopf nicht zerbrechen solle.

Anschließend führte sie mich noch durch ihr gesamtes Anwesen. Seit dem Tod ihres Mannes lebte sie hier allein. Nicht ganz allein, denn zum Glück habe sie ein wunderbares kroatisches Pärchen kennenlernen dürfen, das nun in dem anliegenden Gartenhaus wohne. Jakov und Neva halfen ihr als Gegenleistung im Garten und auch bei der Hausarbeit. Die beiden waren allerdings gerade in Kroatien auf Familienbesuch. Ich würde sie aber in naher Zukunft – eher unfreiwillig – kennenlernen.

In den darauffolgenden Wochen verbrachte ich viel Zeit im Atelier von Emilia Goldberg. Mein neuer Arbeitsplatz inspirierte mich zu ungeahnten Höhenflügen und motivierte mich zu einem bis dato nicht für möglich gehaltenen Arbeitspensum. Das war wahrscheinlich ausschlaggebend für den folgenschweren Wutanfall. Keine Ahnung, was mich damals geritten hatte. Fakt bleibt, dass ich in diesem Wutanfall, meine sämtlichen Malutensilien aus dem Fenster schmiss. Wie es das Schicksal so wollte, ging ein gewisser Herr Vogel an diesem Vormittag auf der Straße unter meinem Fenster spazieren. Und leider kreuzten sich die Aufenthaltsorte des Herrn Vogel und meiner Leinwand wenige Sekunden später exakt. Es passierte, was passieren musste. Die Leinwand ging zu Bruch und Herr Vogel auch. Er konnte nicht mehr aufstehen, geschweige denn davon fliegen.

Emilia hatte mich nach dieser Episode genötigt, Herrn Vogel im Krankenhaus zu besuchen, um mich zu entschuldigen. Weiters musste ich die Schuld – die moralische und finanzielle – bei ihr im Garten abarbeiten. Der Anwalt von Herrn Vogel hatte eine unverschämt hohe Forderung an Schmerzensgeld gestellt. Da musste dann sogar eine Frau Emilia Goldberg schlucken. So verbrachte ich den vorletzten Sommer am Pöstlingberg und half Jakov und Neva beim Unkraut ausreißen, Rasen mähen und Hecken schneiden.

Auch diese Geschichte wurde von meinen Kumpanen immer wieder gerne aufgegriffen. Warum denn der Herr Vogel nicht weggeflogen sei, als die Leinwand herabgeflogen kam? Es waren sich auch mehr oder weniger alle einig bei der sehr lustigen Annahme, dass der Herr Vogel sicherlich gut vögeln könne, denn wie sonst komme man zu so einem Namen. Richard konnte sich dabei vor lauter Lachen kaum noch einkriegen. Und dass der Anwalt schon einen Vogel haben muss, wenn der so exorbitant hohe Summen verlange. Auf der anderen Seite könne man doch vielleicht die Adresse von diesem Anwalt herausfinden. Der solle doch bei der nächsten Gelegenheit etwas Geld heraushandeln.

Der Wirt hat dann abschließend gemeint:

"Na Ernst, mit dieser Geschichte hast du den Vogel abgeschossen!"

Das zum Glück dann doch nicht.

Kapitel 13 | Glücksmomente

Keine Ahnung, ob das die ersten Auswirkungen der Psychotherapie bei Frau Doktor Hummel waren, oder doch das abgespeicherte Bild von Franziska in meinem Hippocampus. Vielleicht wirkten sich auch die Dracaena Marginata, die Emilia bereits im Atelier installiert hatte, und das Tee-Experiment positiv auf meine Stimmung aus. So oder so, da waren sie: die gravierenden Veränderungen.

Erstens: Ich befinde mich, so wie auch schon in den letzten Tagen, weit vor Mittag im Atelier. Das setzt natürlich voraus, dass ich heute schon wieder sehr früh aufgestanden bin. Wobei früh ein dehnbarer Begriff ist. Auch war ich in dieser Woche bisher kein einziges mal im Andy's Cool. Ich verspürte dieses – für mich so neue – Bedürfnis, früh ins Bett zu gehen und weniger Alkohol zu trinken. Sogar auf der Geburtstagsfeier von meiner Mutter am Vortag hatte ich beim zweiten Glaserl Wein abgelehnt. Alle waren verwundert – auch ich.

Dafür habe ich in den letzten Tagen zwei Bilder fertig gestellt. Ein weiteres mit dem bezeichnenden Titel"Le Printemps Est Arrivé" (Der Frühling ist eingekehrt) ist am Fertigwerden. Emilia Goldberg hat es sich schon reserviert, während sie mir teetrinkend und mit einem Lächeln in den Augen bei der Arbeit zusah."Ich liebe dieses Bild. Jeden Morgen soll es mich daran erinnern, was für ein Geschenk es ist, leben zu dürfen. Am besten, ich hänge es in mein Schlafzimmer."

"Es freut mich, liebe Emilia, dass ich dir damit so eine Freude machen kann. Lass mir dir das Bild schenken. Als kleines Dankeschön für all das, was ich von dir schon bekommen habe."

"Das kommt überhaupt nicht in Frage. Das ist deine Arbeit und die gehört honoriert. Es sind immerhin schon drei Monate vergangen, seitdem ich dir das letzte Bild abgekauft habe."

"Das liegt aber in erster Linie daran, dass ich seit mindestens drei Monaten kein Bild mehr gemalt habe", dachte ich mir. Da wollte ich mich dann aber auch nicht mit ihr streiten. Ein Gentleman sollte wissen, wann es Zeit ist zu schweigen und zu genießen. So sagte ich nichts, dafür drückte ich sie ganz, ganz lang.

"Danke", flüsterte ich ihr ins Ohr."Ich glaube, ich bin gerade glücklich!"

💡 Es gibt sicherlich viele Möglichkeiten, Glücksmomente zu erleben. Mit Freunden eine schöne Zeit verbringen, die Natur genießen, einen guten Film ansehen, einfach nur dasitzen und über vergangene Glücksmomente nachdenken, etwas Kreatives gestalten, Musik hören oder selbst wunderbare Schwingungen erzeugen, tanzen, ein Buch lesen :-)

Darum: Erzähle das dem inneren Schweinehund, der uns immer wieder einreden möchte, dass es sehr mühsam ist, glücklich zu werden. Dein Schweinehund hat meistens das Argument, dass es am besten sei, sich einfach nur auf der Couch einzuigeln und sich selbst zu bemitleiden. Denn schließlich hätten die Freunde keine Zeit. Das Geldbörserl sei zu mager ausgestattet. Sport ist Mord. Lesen, basteln, musizieren ist sowieso anstrengend. Und so weiter, und so weiter.

Wenn wir uns allerdings in Ruhe überlegen, wieviel Arten von Glücksmomenten es geben kann, dann stimmt es wohl, was die alten Römer damals schon behaupteten: Jeder ist seines Glückes Schmied.

Kapitel 14 | Pinot Meunier

Teetrinkend saß Emilia Goldberg auf meiner Couch und genoss es sichtlich, wie glücklich ich meinem Beruf, meiner Berufung nachging.

"Du Ernst?"

"Ja?"

"Hast du dir schon einmal überlegt, dass du dir einen Künstlernamen zulegst?"

"Gefällt dir Schwarzmüller nicht?"

"Hmm. Du verwendest lauter französische Namen für deine Bilder. Warum eigentlich?"

"Das weiß ich gar nicht so genau. In der Schule war Französisch sogar mein schlechtestes Fach. Meine Aussprache ist ohnehin grottenschlecht. Wahrscheinlich deswegen, weil es irgendwie schnöselig klingt. Schließlich sind doch meine Kunden meist Schnöseln." Ich fügte noch schnell hinzu:"Anwesende ausgenommen!" Sie lachte.

"Was hältst du von Pinot Meunier? Eine wunderbare, französische Rebsorte, zu Deutsch wahlweise auch als Schwarzriesling oder Müllerrebe bekannt." Emilia hatte sich bezüglich eines möglichen Künstlernamens anscheinend schon ihre Gedanken gemacht.

"Oh, also quasi ein schwarzer Müller, der noch dazu gut schmeckt, auf französisch." Lachend fügte ich hinzu:"Da muss ich aber noch an meiner Aussprache feilen!"

Emilia Goldberg teilte mir noch mit, dass sie sich gleich mit meiner Mutter im Kaffeehaus treffen werde. Darum müsse sie sich jetzt verabschieden und mich alleine im Atelier zurücklassen.

Die beiden Damen sind schon jahrelang befreundet. Es war ein Wink des Schicksals, dass die Fee Emilia in unser beider Leben getreten ist. Ihr haben wir es zu verdanken, dass meine Mutter und ich uns wieder versöhnlich in die Augen sehen können. Doch das ist eine andere Geschichte.

So war ich wieder allein mit meiner Leinwand und dem Pinsel in der Hand. Die Idee mit dem Künstlernamen ließ mich nicht mehr los. Mit verschiedenen Stimmen und Nuancen begann ich schon einmal zu üben. Theatralische Handbewegungen unterstützten dabei meinen Monolog.

"Pinot Meunier."

"Pinot! Meunier!"

"Pinot Meunier?"

Das Handy klingelte. Das war nun mindestens schon das zehnte SMS innerhalb einer Stunde.

"Wieso hebst du nicht ab? Alles klar bei dir?" Klaus ist halt doch ein wahrer Freund. Der sorgt sich wenigstens um mich.

"hey, oida! kumm wieda amoi ins andy's cool." Der unverkennbare Charme von Richard.

"Hallo Ernsti. Ich hoffe, dir geht es gut. Du fehlst uns! :-)" Otto ist der einzige Mensch, der mich Ernsti nennt. Sonderlich gefallen tut mir das nicht, aber aufregen tu ich mich deswegen auch nicht.

"Hallo, Herr Schwarzmüller. Leider muss ich übermorgen unseren Termin absagen, weil ich krank im Bett liege. Mit freundlichen Grüßen, Franziska Hummel."

Diese Nachricht versetzte mir einen Schlag in die Magengrube. In solchen Nöten war dann gute Medizin von Nöten.

Ich tippte ins Handy:"Bin in zehn Minuten in Andy's Cool. Bestellt mir schon einmal ein Bier."

Auf dem Weg zu meinem Stammlokal versuchte ich meine Gedanken zu sortieren. Ich ließ noch einmal die Nachricht von Franziska Revue passieren."Hallo, Herr Schwarzmüller". Diese Anrede gefiel mir zu fünfzig Prozent. Grüß Gott oder Sehr geehrter wären definitiv seriösere, also schlimmere Varianten gewesen. Ein Hallo ließ da wenigstens einen gewissen Spielraum zu, dass sich die zwischenmenschliche Beziehung in die richtige Richtung entwickelte. In welche Richtung das sein könnte, und vor allem in welchem Tempo, wollte ich an dieser Stelle meinerseits noch offenhalten. Mehr so Richtung Gemeinsam-Tee-trinken? Oder doch schon so Richtung Bett? Ich könnte ihr daraus ein verlockendes Kombi-Angebot machen: Tee zu kochen und diesen dann an ihr Bett servieren. Allerdings passte das sicherlich noch nicht für Herrn Schwarzmüller und Frau Hummel. Für Ernst und Franziska wäre das schon eher möglich.

Kapitel 15 | Vorfreude ist die schönste Freude

"Prost!"

Klaus, Richard, Otto, Mario und ich stießen gleichzeitig unsere Gläser zusammen. Das erste Bier war schnell verdunstet, und auch das zweite hielt sich nicht lange an der frischen Luft. Wobei das Wort"frische Luft" hier im Andy's Cool eher ein Fremdwort ist.

"Sapperlot, da hat aber jemand einen ordentlichen Durst!"

Das hatte ich wirklich. Zum einen musste ich einiges an Versäumtem wieder aufholen. Und die aktuelle traurige Nachricht von Franziska beschleunigte auch mein Trinkverhalten. Hätte sie die Absage unseres Termins auch geschrieben, wenn sie gewusst hätte, dass sie damit bei mir ein verstärktes Bedürfnis nach Alkohol auslösen würde? Sie als Psychotherapeutin müsse musste eigentlich wissen, dass Menschen in einem labilen Zustand anfällig für Hochprozentiges sind.

"Was ist los, Ernst? Erzähl einmal, was hat sich letzte Woche bei dir getan?"

Ich ließ den Worten freien Lauf. Dass ich diese Woche wieder einmal richtig künstlerisch tätig war, und dass mir Emilia Goldberg das aktuelle Bild zu einem Rekordpreis abgekauft hatte, und dass ich total in meine Psychotante verknallt war, und dass ich gerade mitten in einem Tee-Experiment steckte.

"Stopp! Stopp! Alles der Reihe nach! Was ist mit deiner Psychotante? Ist sie eine kesse Biene?" Ich musste schmunzeln. Ich erzählte von unserer ersten Begegnung und meinem leicht tollpatschigen Hummel-Bienen-Vergleich.

"Und ja, sie ist eine kesse Biene! Die schönste Biene in ganz Linz!" Mir wurde dabei ganz warm um die Ohren.

"Ui, da ist aber jemand richtig schön verknallt!" Erwischt. Ja, es hat mich richtig erwischt.

"Naja, gefallen tut sie mir schon recht gut!"

Der restliche Abend ging dann auf meine Kosten. Finanziell und unterhaltungstechnisch. Richard und Co konnten sich darüber ergötzen, dass ich wie ein verliebter Teenager dreinschauen würde. Wie ich nun am besten taktisch vorgehen sollte, war dann natürlich auch noch ein spannendes Thema. Mario schlug mir eine Blumen- und Gedichtkombination vor. Viel zu romantisch und viel zu kitschig sei das aus Richards Sicht und da musste ich ihm ausnahmsweise einmal Recht geben. Frauen stehen eher so auf Arschlochtypen, daher musst du es schaffen, dass du unnahbar wirkst. Dann verknallen sie sich in dich, und dann musst du ihnen zu verstehen geben, dass du sie gar nicht willst. Das sei die effektivste Taktik laut Dating-Experte Richard. Naja, wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte.

Ob die Hummel überhaupt noch zu haben sei und ob sie denn überhaupt auf Männer stehe, wollte Otto wissen. Das müsste ich unbedingt als erstes in Erfahrung bringen. Ich ging ja eigentlich davon aus. Dass eine der beiden Annahmen nicht ganz richtig war, würde ich allerdings in nicht allzu ferner Zukunft auf schmerzliche Art erfahren.

Später, sehr viel später gingen Klaus und ich gemeinsam nach Hause. Ihm erzählte ich dann im Vertrauen, dass ich mich schon auf den kommenden Montag und auf die nächste Therapiestunde gefreut hatte – Franziska mir ab leider krankheitsbedingt absagen musste.

"Vorfreude ist doch die schönste Freude, oder?" gab Klaus zu bedenken.

"Dadurch verdoppelt sich deine Freude ja sogar. Denn schließlich wirst du dich freuen, wenn du Franziska wieder siehst – und bis dahin kannst du dich freuen, dass du sie wieder sehen wirst." Da musste ich dem Hobbyphilosophen Klaus tatsächlich Recht geben.

"Siehst du. Dann freue dich, denn deine Vorfreude hat sich somit etwas verlängert!"

💡 Geduldig auf etwas zu warten, fällt uns oft schwer. Da möchte man gerne eine zeitliche Abkürzung nehmen. Wie war das damals vor Weihnachten? Natürlich waren die 24 Tage davor gefühlt ein halbes Jahr lang.

Aber ist es nicht auch diese Vorfreude, die die Augen der Kinder noch mehr glänzen lässt, wenn sie unter dem Christbaum stehen. Wäre es noch das gleiche Weihnachtswunder, wenn wir an jedem Tag dieses Fest feiern würden?

Kapitel 16 | Ein Schrecken ohne Abschluss

Mit Blumen ausgerüstet begab ich mich zu ihr. Es gab viel zu erzählen und zu erklären, denn schließlich hatte sich seit unserer letzten Begegnung einiges getan.

"Schön, dass du da bist!" Sie umarmte mich."Danke für die Blumen!"

Ich setzte mich auf die Couch.

Viel hatte meine Mutter in den letzten Jahren hier nicht verändert. Dieselben mintgrünen Vorhänge, der Schaukelstuhl, in dem mein Großvater so gern gesessen hatte, die Familienfotos an der Wand, sogar der alte Plattenspieler funktionierte noch. Mir gefiel es. Vor allem vermittelte es mir jedesmal aufs Neue ein Gefühl von Heimat.

"Wie geht es meinem lieben Lebenskünstler? Erzähl, was hat sich in letzter Zeit getan?" Meine Mutter nahm in Großvaters Schaukelstuhl Platz und ich begann von den letzten Wochen zu erzählen.

Mittlerweile hat sich meine Mutter ganz gut damit abgefunden, dass ich meine Brötchen mit Bildermalen verdiene. Das war nicht immer so. Als ich ihr damals nach dem Zivildienst verklickert habe, dass ich nun Kunst studieren würde, hat sie zuerst einmal die Augen verdreht. Sie solle doch froh sein, dass ich nun endlich weiß, was ich machen wollte. Prinzipiell stimmte sie das ja auch positiv, meinte sie, aber vernünftiger wäre es doch, einem richtigen Beruf nachzugehen.

Meinen Wunsch, Künstler zu werden, habe ich trotzdem durchgesetzt, was die Beziehung zu meiner Mutter von Jahr zu Jahr verschlechterte. Mit Anfang dreißig war ich immer noch am Studieren. Ich habe nach dem Motto studiert: Gut Ding braucht Weile. Und beendet habe ich mein Studium mit den Worten: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Ende mit einem schrecklichen Abschlusszeugnis. Wieso benötigt ein Künstler überhaupt ein Zeugnis? Es gibt keinen einzigen Kunstliebhaber in diesem gesamten, verdammten Universum, der für den Kauf eines Kunstwerkes eine Bestätigung von einem abgeschlossenen Studium benötigt. Da war ich mir sicher.

Meiner damaligen Freundin Anna-Marie habe ich das auch so erklärt. Schließlich muss ein Mann tun, was ein Mann tun muss. Was auch immer damit gemeint ist, hat mir bis heute auch noch niemand richtig erklären können. Es klingt auf jeden Fall sehr wichtig und vor allem männlich, darum habe ich es in mein Schlussplädoyer miteingebaut. Anna-Marie konterte, dass sie nicht mehr länger zusehen würde, wie ich mein Leben versaue. Vor allem sehe sie keine gemeinsame Zukunft mit mir. Sie steuerte auf die Dreißig zu und wollte schön langsam ans Heiraten und Kinderkriegen denken. Mir sei das viel zu bieder, erwiderte ich trotzig. Na, dann hätten wir das also auch geklärt, schrie sie mich an, bevor sie wegrannte und die Tür hinter sich zuschlug.

Wahrscheinlich hätte sie sich erwartet, dass ich ihr nachlaufe und sie um Entschuldigung bitte. Ich habe mir aber gedacht, dass das nur wieder so eine Flause von ihr war, und dass sie dann ohnehin spätestens nach einem Tag wieder reumütig zurückkommen würde. Das war in den Jahren davor immer so gewesen. Dieses Mal wurde aus dem Tag eine Woche und aus der Woche ein Monat ohne ein Lebenszeichen von ihr.

Kapitel 17 | Biss in den Hintern

Die nächste Begegnung mit Anna-Marie nach diesem Streit war dann eine zufällige – und zwar vor Andy's Cool. Dieses Mal hatte ich meinen Durst schon vor Sonnenuntergang zur Genüge gelöscht und begab mich torkelnd auf den Nachhauseweg. Dabei hätte ich in meinem Zustand fast ein Liebespärchen umgerannt.

"Scheiße, sie hat mich gesehen!" dachte ich mir. Es war mir peinlich, dass ich um diese Uhrzeit schon so einen Rausch ausgefasst hatte und noch peinlicher war es mir, dass sie mich dabei ertappt hatte.

"Hallo Ernst."

"Hallo Anna-Marie." Was wollte sie mit diesem affigen Typen, der da seine Hand um ihren Hals gelegt hatte?

"Darf ich dir Gregor vorstellen?" Brauchte sie nicht, weil wir uns von damals aus Schulzeiten her kannten – Typ schleimiger Klassenstreber. Später war er dann sogar einmal für ein paar Monate mein Bankberater gewesen. Kurz darauf hatte er den nächsten Schritt auf der Karriereleiter erklommen. Für so kleine Würstchen, und damit meinte er mich, konnte er ab da seine kostbare Zeit nun nicht mehr vergeuden.

Auf ein ausführliches Kennenlernen vor Andy's Cool konnte ich liebend gerne verzichten und sagte daher gar nichts.

"Wir kennen uns schon von früher", hakte Gregor ein. Und an mich gerichtet:"Das mit Anna-Marie hast du aber schön vergeigt."

"Und du Arschgeige spielst jetzt bei ihr die erste Geige, oder was?" Für meine gefühlten zwei Promille war ich richtig stolz, dass mir so spontan ein kreativer Konter einfiel.

"Da ist jemand anscheinend ziemlich angepisst!" Grinsend gab er ihr einen Kuss auf die Wange, um mich noch mehr zu provozieren.

"Von diesem Affen lässt du dich ablecken? Von Mister Biedermann höchstpersönlich? Ich wünsche euch noch ein super-langweiliges Leben!" Goethe hätte sich in dieser Situation vielleicht etwas poetischer ausgedrückt.

"Da bin ich lieber ein biederer Langeweiler als ein ständig besoffener Versager!"

"Arschloch!" Mehr Kreativität war in diesem Moment nicht mehr möglich.

Anna-Marie ging dazwischen mit den Worten, wir sollten uns bitte wie zwei erwachsene Männer benehmen. Das hätte doch alles keinen Sinn. Das Schicksal habe eben anders entschieden. Damit müsste man sich abfinden.

"Ich wünsche dir noch alles Gute, lieber Ernst", waren ihre versöhnlichen Abschiedsworte. Ihren traurigen Blick dabei habe ich bis heute nicht vergessen.

Die Trennung von Anna-Marie habe ich viele Jahre lang bereut. Ich hätte damals etwas unternehmen sollen. Ich hätte etwas unternehmen müssen. Nicht einmal angerufen habe ich sie, ich Trottel. Dabei mochte ich sie doch – sehr sogar. Wenn ich so recht überlege, war sie vielleicht sogar die Liebe meines Lebens. Vielleicht war ich zu träge? Vielleicht war ich zu feige? Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Für diese verpasste Chance hab' ich mich oft in den Hintern gebissen.

💡 Es gehört wahrscheinlich zu den traurigsten Erfahrungen in unserem Leben, wenn sich ein geliebter Mensch von uns entfernt. Dafür gibt es viele Gründe. Oft liegt es nicht in unserer Hand, weil es zum Beispiel die Entscheidung des anderen ist.

Es gibt aber auch Momente im Leben, wo wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen können/dürfen/sollen. Es gibt Gelegenheiten, die man vielleicht so später nicht mehr bekommen wird. Solche Gelegenheiten sollte man sprichwörtlich beim Schopf packen. Zwar denkt man vielleicht, dass es das Schicksal ohnehin für einen richten werde und lehnt sich bequem zurück. Oder man fürchtet, dass man etwas von seinem Stolz verlieren könnte, wenn der Erfolg ausbleibt.

Man sollte aber auch an dieser Stelle daran denken: Wenn man es unversucht lässt, dann besteht die noch viel größere Gefahr, dass man sich später einmal für diese versäumte Gelegenheit in den Hintern beißen wird.

Das Bild von Anna-Marie Hand in Hand mit Gregor ging mir an jenem Abend nach unserer Zufallsbegegnung nicht mehr aus dem Sinn. Es lieferte mir die traurige Gewissheit, dass ich sie nun endgültig verloren hatte. Schweren Schrittes trat ich meinen Heimweg an. Ich beschloss, am nächsten Tag wieder einmal meine Mutter zu besuchen. Dabei hoffte ich auf Schnitzel, Pommes und tröstende Worte.

Kapitel 18 | Mürrische Begrüßung

"Da musst du dich früher anmelden. Glaubst du ich koche jeden Tag eine zweite Portion für dich mit und warte dann bis gnädiger Herr Sohn vielleicht einmal auftaucht." Das war ja eine schöne Begrüßung von meiner Mutter – als hätte die traurige Episode mit Anna-Marie und Mr Biedermann am Vorabend nicht schon gereicht."Aber nimm einmal Platz, vielleicht finde ich etwas im Gefrierfach." Mir war allerdings bereits der Hunger vergangen.

"Gib dir keine Mühe, ich hole mir lieber einen Bosner."

"Entschuldige, Ernst. Entschuldige meine mürrische Art, aber mir geht es in letzter Zeit nicht so gut."

"Da sind wir schon zwei!"

"Was ist denn los?"

"Anna-Marie und ich …" So recht wusste ich nicht, wie ich es ihr erklären sollte.

"Was ist mit Anna-Marie?" Meine Mutter mochte Anna-Marie sehr. Sie hatten sich vom ersten Tag an prächtig verstanden, als ich die beiden einander damals vorgestellt hatte. Sie treffen sich sogar jetzt noch ab und zu gemeinsam im Kaffeehaus. Das ist schon auch irgendwie schräg für mich. Da bin ich manchmal sogar richtig eifersüchtig. Auf beide.

"Ich habe sie gestern getroffen. Und wir haben uns wieder einmal gestritten."

"Was hast du denn dieses Mal für einen Mist gebaut?" Ein einziges Mal würde ich mir wünschen, dass sie in so einem Fall auf meiner Seite steht. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen.

"Sicherlich warst du wieder einmal sternhagelvoll. Hast du dich schon entschuldigt bei ihr?"

"Das ist so nicht mehr möglich." Bedrückende Stille. Mir gefiel nicht, wie sie mich ansah.

"Was soll das heißen? Hast du es nun endgültig vergeigt?"

"Sie ist jetzt mit einem neuen Typen zusammen – so ein schmieriger Banker."

"Da kann ich Anna-Marie verstehen. Du hast ja in den letzten Jahren so gar nichts auf die Reihe bekommen." Wie bitte? In dieser ganzen Geschichte bin doch ich der Arme! Aber nein, meine Mutter sah das aber wieder einmal ganz anders.

"So ein liebes, fesches Mädel. Wieso hast du es nicht geschafft, ihr einfach einen Antrag zu machen, als ihr zusammen wart? Nicht einmal dazu bist du fähig! So eine wirst du sicherlich nicht noch einmal bekommen."

So hatte ich mir den heutigen Besuch wirklich nicht vorgestellt. Ein paar tröstende Worte hätte ich mir schon erhofft. Stattdessen schüttete mich meine Mutter wieder einmal mit Vorwürfen zu.

"Jetzt hat sie wenigstens einen, der ihr etwas bieten kann. Aber du studierst immer noch – und dann noch so eine brotlose Sache."

Ich stand auf. Das wollte ich mir nun nicht mehr länger bieten lassen.

"Ich habe mein Studium mittlerweile beendet!" Dass ich es abgebrochen habe, wäre genau genommen die etwas korrektere Formulierung gewesen. Aber für einen Versager hielt sie mich ja sowieso, egal ob mit oder ohne Abschlusszeugnis. Also war es eh schon egal, was ich ihr erzählte.

Kapitel 19 | Sturköpfe

"Nächstes Mal, wenn ich Trost suche, dann werde ich lieber in Andy's Cool gehen! Schnitzel und Pommes schmecken auch wo anders gut!" Diese trübsinnigen Gedanken spukten damals, nach dem Streit mit meiner Mutter, noch lange in meinem Kopf herum. Da war ich mal gespannt, wann sie sich entschuldigen würde. Ich war richtig sauer auf sie, dass sie so überhaupt kein Verständnis und schon gar kein Mitleid für meine Situation aufbringen konnte.

Es sollte tatsächlich für mehrere Jahre unser letztes Gespräch bleiben. Meine Mutter ist halt ein echter Sturkopf und kann sehr nachtragend sein. Leider fällt der Apfel auch oft nicht weit vom Stamm. So gesehen war es völlig ausgeschlossen, dass man dann beim anderen mit einem Friedensangebot anklopfen würde. Das käme ja einer Totalkapitulation gleich.

💡 Kennen Sie das auch, dass Sie auf jemanden einen Groll haben? Sie erwarten nun, dass sich dieser jemand bei Ihnen entschuldigt. Schließlich sind Sie verletzt worden, und alles soll man sich doch nicht gefallen lassen. Grundsätzlich ist das ja auch richtig.

Es ist wichtig, Ihren Mitmenschen klarzumachen, dass es bei Ihnen Grenzen gibt und diese nicht zu überschreiten sind. Wenn nun jemand so eine Grenze missachtet und Sie verletzt, dann ist es auch gut, diesem jemand klarzumachen, dass das so nicht in Ordnung ist. Aber vielleicht lohnt es sich dennoch, in festgefahrenen Situationen folgende Fragen zu stellen:

  • Könnte es sein, dass der Streit auf einem Missverständnis aufbaut, weil man vielleicht aneinander vorbeigeredet hat?
  • Könnte es sein, dass es manches einfacher machen würde, wenn Sie in manchen Bereichen etwas toleranter wären?
  • Oder könnte es sogar sein, dass Sie bei dem Streitthema vielleicht, eventuell, möglicherweise selbst eine kleine Teilschuld mittragen?
  • Vielleicht wäre es dann sogar für Sie persönlich von Vorteil den ersten Schritt auf den anderen zuzugehen. Das birgt natürlich das Risiko, dass der andere dies als Schwäche ansieht.

Man könnte es aber auch so sehen, dass dieser Schritt eine schöne Portion Mut erfordert, und im Endeffekt Ihre wahre Größe zeigt. Oder?

Im Falle der großen Stille zwischen mir und meiner Mutter war es Emilia Goldberg, die letzendlich bei meiner Mutter anklopfte. Meine Mutter hatte sicherlich ziemlich verwundert dreingeschaut, als vor ihrer Tür eine etwa gleichaltrige, unbekannte Dame mit einem Blumenstrauß in den Händen stand. Was die zwei Damen miteinander gesprochen haben, habe ich nie erfahren. Eines ist aber klar: Die Fee Emilia hat auch meine Mutter verzaubert. Am darauffolgenden Tag klingelte es nämlich an meiner Tür. Meine Mutter begrüßte mich mit Tränen in den Augen – Freudentränen.

Kapitel 20 | Das Problem Seidel

Die Differenzen mit meiner Mutter lagen zum Glück weit in der Vergangenheit und ich konnte mich den aktuellen Ereignissen widmen. Meiner Hummel-Strategie beispielsweise. Oder dem Freundschaftsdienst für meinen besten Freund Klaus, den ich gerade leistete und der mir wahrlich nicht schwer fiel. Er hatte mich gebeten, mit ihm heute einmal einen Lokalwechsel

"Danke, noch einmal, dass du mitgekommen bist."

Ob wir uns nun im Andy's Cool oder hier im Skygarden betrinken, war mir relativ egal. Noch dazu wo mir Klaus zugesagt hatte, heute die Rechnung begleichen zu wollen. Der einzige Unterschied zu unserem Stammlokal bestand darin, dass wir etwas schicker gekleidet waren und anstatt aus Halbliter-Gläsern das Bier aus Seideln konsumierten. Das mit den Seideln wäre ihm sehr wichtig, hatte Klaus erklärt, schließlich würde das im Skygarden besser ankommen. Und bei einer gewissen Kellnerin kommt das in deinen Wunschträumen auch besser an, fügte ich in Gedanken hinzu. Diese gewisse Kellnerin war definitiv der eigentliche Grund für Klaus' Lokalentscheidung gewesen. So hatte ich mich der Etikette gefügt und saß nun ungewohnter Weise vor einem Seidel. Ja, auch mich überrascht es immer wieder, wie flexibel ich doch im Alltag sein kann.

Der Sinn von so einem kleinen Bierchen hat sich für mich nie so ganz erschlossen. Man muss mathematisch gesehen drei anstatt zwei Bier trinken, um auf dieselbe Wirkung zu kommen. Vielleicht ist das einfach so eine Art künstliche Arbeitsbeschaffung, denn logischerweise muss dadurch der Kellner einmal öfter bedienen. Abgesehen davon ist rein rechnerisch der Preis für die gleiche Menge Bier signifikant höher. Das war mir aber zumindest an dem heutigen Tag komplett egal.

So saßen Klaus und ich auf der wunderschönen Dachterrasse vom Skygarden und blickten über die Dächer von Linz. Bei strahlendem Sonnenschein ließen wir uns ein Seidel nach dem anderen servieren. Diesen Ausblick würde ich mir, ehrlich gesagt, in Andy's Cool auch wünschen.

"Achtung, sie kommt", flüsterte Klaus. Er befand sich im höchsten Bereitschaftsmodus."Oder doch nicht."

Die Kellnerin nahm zuerst noch am Nachbartisch die Bestellung auf. Sie war eine durchaus auffallende Persönlichkeit mit ihren wasserstoffblonden Haaren, elendslangen Beinen und einem wahrhaft gut ausgestatteten Dekolletee. Meinen Geschmack traf sie nicht, aber dafür den von Klaus. Sehr sogar.

"Was sollen wir zu ihr sagen?" Nervös kaute Klaus auf seinen Fingernägeln herum. So ganz sicher war ich nicht, ob Klaus umgekehrt auch den Geschmack der Kellnerin traf. Gut, für seine knapp fünfzig Jahre hat er sich wirklich gut gehalten und sein Haupt ist gesegnet mit vollem Haar. Es gibt sicherlich genug Frauen, die sich alle zehn Finger abschlecken würden bei so einem netten Mann. Tja, und da ist er, der Haken: Er ist nett. Wenn mich meine Menschenkenntnis nicht total im Stich lässt, dann würde ich sagen, dass besagte Kellnerin wahrscheinlich eher so auf machomäßige Arschlochtypen steht. Aber warten wir's ab.

"Darf es für die Herren noch ein Seidel sein?" Jetzt war sie uns zuvorgekommen, bevor wir uns einen taktischen Schlachtplan zurechtlegen hätten können.

"Wir würden gerne einmal einen Cocktail versuchen. Oder Ernst?" Er schaute mich kurz an und deutete meinen verdutzten Gesichtsausdruck anscheinend als ein Ja."Was für einen Cocktail können Sie uns empfehlen?"

"Sex on the Beach!" Diese Empfehlung unterstrich sie mit einem Blick, der eindeutig zweideutig war. Flirtete sie gerade mit Klaus? Das war für mich dann schon eine Überraschung - und es würde an diesem Abend nicht die letzte sein.

"Dieses verführerische Angebot nehmen wir gerne an! Zweimal bitte!" Dabei setzte Klaus sein draufgängerisches Mona-Lisa-Lächeln ein. Sie bestätigte die Bestellung mit einem Zwinkern."Gerne, die Herren!"

"Alle Achtung, Klaus. Das hätte ich dir nicht zugetraut!"

Er grinste:"Ich mir auch nicht!"

Cocktailschlürfend saßen wir da und beobachteten die mittlerweile untergehende Sonne. Schön, wieder einmal Zeit mit Klaus allein zu verbringen. Er erzählte mir, dass er vorige Woche mit seinem Sohn Felix unterwegs gewesen war. Sein Youngster hatte vorgeschlagen, sich im Skygarden zu treffen. So habe Klaus auch die Kellnerin zum ersten Mal gesehen. Er erzählte mir außerdem, dass Felix nun im Herbst nach Graz gehen würde, um Psychologie zu studieren. Da könnten wir ihn ja einmal besuchen, und dann würde er uns die Stadt zeigen und auf ein Studentenfest könnten wir dann vielleicht auch mitkommen. Das wäre zumindest einmal so eine Idee von Felix gewesen.

Es ehrte mich, dass ich in dem Plan mit inbegriffen war. Felix ist schon ein cooler Bursche – und er denkt wahrscheinlich ähnlich von mir. Zumindest gefällt es ihm, dass ich meinen Lebensunterhalt als Künstler bestritt, und meinen Humor mag er glaube ich auch. Wir haben auf jeden Fall immer eine Menge Spaß miteinander. Ich würde sagen, dass Felix und ich eine Art Onkel-Neffen-Beziehung haben. Wir sind auch schon öfters zu dritt mit Klaus unterwegs gewesen und hatten immer eine gute Zeit zusammen. Mit Klaus verbindet mich ohnehin eine jahrzehntelange Freundschaft. Wir können einfach wunderbar gut miteinander. Miteinander reden, miteinander blödeln, miteinander philosophieren – und das praktizierten wir an diesem Abend im Skygarden ausführlich.

💡 Es ist schon ein Geschenk, wenn man gute Beziehungen hat – ob partnerschaftlich, familiär oder freundschaftlich. Das hat wahrscheinlich auch viel mit Glück zu tun, wenn man mit einer anderen Person so wunderbar auf einer Wellenlänge ist. Wenn Ihnen so ein Glück in Form eines Mitmenschen begegnet, dann dürfen Sie Ihrem Glück auch etwas nachhelfen, indem Sie diese Beziehung pflegen.

Es ist wie bei einer Pflanze – die muss man auch immer und immer wieder gießen. Vielleicht denken Sie gerade an eine nette Person und dass Sie mit dieser Person wieder einmal Zeit verbringen möchten. Eine Empfehlung meinerseits: Ein sonniger Nachmittag auf einer Dachterrasse mit einem guten Getränk ihrer Wahl – es muss ja nicht unbedingt ein Seidel sein. 

Kapitel 21 | Sex ohne Beach

"Meine Herren, wir machen dann Sperrstunde! Letzte Runde!" Eine Nuance in ihrer Stimme verriet uns, dass sie sich wünschte, Klaus würde noch etwas länger im Skygarden bleiben. Klaus, als wahrer Gentleman, kam dieser Bitte seiner Lieblingskellnerin gerne nach.

"Dann schnappen wir noch ein Fluchtseidel, bitte!" Ja, Klaus war in dieser Hinsicht immer schon sehr entscheidungsfreudig und ich war in dieser Hinsicht ohnehin ein loyaler Freund.

"Gerne!" Und da war wieder dieser Blick von ihr, der noch wortlos hinzufügte, dass sie sogar sehr, sehr gerne diese Bestellung von so einem netten Mann entgegennahm. Ich bildete mir sogar ein, dass sie beim Gehen besonders einladend mit ihrem Popo wackelte.

"Jetzt müssen wir uns doch noch etwas überlegen, damit du heute noch zu deinem Sex on the Beach kommst!"

"Also ich nehme auch gerne Sex ohne Beach." Dabei hatte Klaus wieder einmal dieses geheimnisvolle Mona-Lisa-Lächeln aufgesetzt. Dieses Mal deutete ich sein Lächeln so, dass er da noch so eine Idee in der neuen Rolle als Draufgänger hatte.

Als sie mit unseren Bierchen kam, setzte er noch einmal zur Offensive an:"Wir hätten da noch zwei Fragen …" Er machte eine kurze Pause, um den dramaturgischen Spannungsbogen noch mehr aufzubauen. Erwartungsvoll schaute die Kellnerin Klaus an.

"Wie heißt du eigentlich?" Jetzt waren wir also schon beim Du angelangt. An dieser Stelle musste ich an Franziska denken, die mich immer noch mit meinem Nachnamen ansprach.

"Tanja!" Die sonore Stimme kam von der Bar – wahrscheinlich der Chef von dem Laden. Schlechtes Timing.

"Ich komme!" Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ uns Richtung Bar. Naja, zumindest ihren Namen wussten wir jetzt.

Nachdem sich unser Fluchtseidel verflüchtigt hatte, ging Klaus zur Bar, genaugenommen zu Tanja, um die Rechnung zu begleichen. Das Trinkgeld fiel erwartungsgemäß hoch aus.

"Danke! Das ist aber sehr großzügig von dir!" Sie schenkte ihm ein Lächeln.

"Hast du dir verdient, liebe Tanja!"

"Jetzt hätte ich da noch eine Frage …," sagte Tanja und blickte dabei in unsere neugierigen Gesichter.

"Ja, bitte?" Klaus bemühte sich, besonders nett zu sein. Jetzt bitte nur nichts vermasseln, so kurz vor der Zielgeraden, dachte ich mir.

Sie fuhr fort:"Du hattest doch erst eine Frage gestellt. Was ist denn nun mit deiner zweiten?"

"Wir gehen noch ins Rox. Magst du mitkommen?" Von diesem Plan wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nichts. Aber natürlich konnte sich Klaus sicher sein, dass ich ihn dabei nicht im Stich lassen würde. Denn es war ein wirklich netter Abend und mein Durst war auch noch nicht ganz gestillt.

"Das mache ich nicht, dass ich mit zwei unbekannten Männern fortgehe!" Also doch. Jetzt hat es Klaus also doch noch mit seiner Nettigkeit vermasselt.

Sie schmunzelte:"Dazu müsst ihr mir vorher schon eure Namen verraten!"

Nachdem auch das geklärt war, begaben wir uns gemeinsam Richtung Rox, wo schon die nächste Überraschung auf uns wartete.

Kapitel 22 | Außerhalb der Geschäftszeiten

"Das ist ja eine schöne Überraschung!", dachte ich mir im Rox angekommen. Die Überraschung stand an der Bar und hatte brünettes, lockiges Haar, eine traumhafte Figur und normalerweise das schönste Lächeln von Linz.

"Hallo Frau Hummel. Was machen Sie denn hier?"

"Oh, hallo Herr Schwarzmüller. Ob Sie es glauben, oder nicht: Auch Psychotherapeutinnen müssen mal raus aus den eigenen vier Wänden."

"Sind Sie wieder gesund?"

"Ja, zum Glück. Dieses Mal hat es mich ordentlich erwischt." Leider bezog sich der Inhalt dieser Nachricht wahrscheinlich eher auf ihre Krankheit und nicht auf etwaige Frühlingsgefühle.

"Entschuldigen Sie, dass ich Sie letztens so kurzfristig versetzen musste."

"Kein Problem." Das entsprach natürlich nicht ganz der Wahrheit, wenn ich an letztes Wochenende zurückdachte. Im ersten Moment war für mich immerhin eine halbe Welt untergegangen, aber das konnte ich ihr natürlich aus taktischen Gründen nicht verraten.

"Sie schauen aber noch nicht so ganz fit aus, wenn ich das so sagen darf."

"Ich weiß. Das hat aber andere Gründe." Sie zwang sich zu einem Lächeln.

"Wollen Sie mir erzählen, wo der Schuh drückt?"

"Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich bin doch Ihre Psychotherapeutin und nicht umgekehrt!"

"Und wenn ich kündige – ich meine so als Ihr Kunde?" Ja, ich war im ersten Moment auch überrascht über diese Worte. Die sprudelten völlig unkontrolliert aus meinem Mund, ohne dass ich mir vorher überlegen hätte können, welche Konsequenzen diese Ansage nach sich ziehen könnte.

"Sie haben ja gerade erst mit der Therapie begonnen – und jetzt wollen Sie schon wieder aufhören? Wie geht es Ihnen eigentlich?"

"Dürfen Sie mich das so außerhalb ihrer Geschäftszeiten überhaupt fragen?" Das sei heute eine Ausnahme erklärte sie mir mit einem Lachen in der Stimme.

Und so erzählte ich ihr von meinem neuen Elan. Dass ich so kreativ war wie schon lange nicht mehr, und dass Sie der Grund dafür sei. Meiner Mutter hätte ich auch wieder einmal einen Besuch abgestattet und ihr bei dieser Gelegenheit auch von der Therapie erzählt. In dem Zusammenhang musste ich Franziska natürlich auch erklären, wer Emilia Goldberg war. Immerhin war sie der Grund, warum Franziska und ich uns überhaupt begegnet sind. Das mit dem Tee-Experiment erwähnte ich allerdings nicht. Das kam mir dann doch irgendwie albern vor.

Franziska wollte auch noch wissen, was ich denn eigentlich Kreatives mache. Sie schien sich immer mehr für mich zu interessieren. Für mich als Künstler und für mich als Mann.

"Was bin ich Ihnen denn jetzt schuldig, Frau Doktor?"

Sie lachte:"Das geht aufs Haus!"

"Darf ich Ihnen dafür den nächsten Drink spendieren?"

"Ja, gerne." Da war es wieder dieses wunderschöne Lächeln.

Kapitel 23 | Auf der Überholspur

Ich sah mich im Rox um, schließlich war ich neugierig, wie es Klaus und Tanja ging. Mein Blick verriet mir, dass ich mir um die beiden Turteltauben keine Sorgen mehr machen musste. Schmunzelnd dachte ich mir, dass man seine Zunge auch zum Reden verwenden könnte. Die beiden hatten allerdings eine noch bessere Idee. Ich freute mich für Klaus. Der hatte mich gewaltig überholt, wenn ich daran dachte, wie weit ich im Vergleich dazu mit Franziska war.

Franziska war auf der Toilette gewesen und nun auf dem Rückweg zu mir. So eine bezaubernde Frau. Ich mochte alles an ihr. Ihr makelloses Lächeln, die frechen Locken, die auf perfekt chaotische Art auf ihren Schultern tanzten, ihre grünen Augen, die Art wie ihre Bluse sich an ihren Körper schmiegte und ihren betörenden Duft. Oh, Franziska, wie gern wäre ich dein Ernst! Doch soweit waren wir noch nicht. Da musste sich vorher noch etwas ändern.

"Also, wenn ich nun nicht mehr Ihr Kunde wäre", ich entschied mich dann bewusst für die vorsichtigere Variante des Konjunktivs,"wäre es dann denkbar, dass wir uns duzen?"

"Ja, das wäre denkbar!" Sie schmunzelte.

"Ja, wenn das so ist: Ich bin der Ernst!"

"Franziska. Angenehm!"

Das war dann doch leichter als gedacht. Und dann ging es Schlag auf Schlag. Als hätte es da einen Damm gegeben, aufgebaut auf unserem gegenseitigen Siezen. Und dieser Damm war nun durchbrochen. Unsere Unterhaltung nahm Fahrt auf. Wir übersprangen die langweiligen Themen wie Hobbies oder Familienmitglieder. Sie erzählte von Indien, bewusstseinserweiternden Erfahrungen mit mehr oder weniger legalen Substanzen und erotischen Tantra-Übungen. Von diesen hatte sie schon einige ausprobiert – es würde da aber noch viele geben, die sie gerne versuchen wollte. Und plötzlich spürte ich ihre Hand auf der meinen.

"Kann ich einmal ein Bild von dir sehen?"

"Sicher!"

"Heute noch?"

Kapitel 24 | Ein guter Morgen

So ein perfekter Glücksmoment. Wobei - so perfekt war er eigentlich gar nicht. Draußen stürmte und regnete es, als wollte die Welt gerade untergehen. Mein Magen meldete mir, dass etwas nicht in Ordnung war. Das lag sicher daran, dass ich gestern lauter für ihn unbekannte Getränke konsumiert hatte. Vielleicht war es der Cocktail – wobei, das war nur ein einziger gewesen. Wogegen mein Magen rebellierte, war wohl eher das Problem Seidel. Meine Blase gab mir die Info, dass sie nun bereit sei, sich des Problems Seidel gerne zu entledigen. Einfacher ausgedrückt: Ich musste auf die Toilette – und das schon ziemlich dringend. Doch ich wollte diesen perfekten Moment nicht zerstören.

Da lag sie – meine Traumfrau. Seelenruhig schlief sie noch, und diesen Anblick wollte ich so lange wie irgend möglich genießen. Ihr Atem ging sehr gleichmäßig, dabei bewunderte ich ihre perfekte Bauchatmung. Ich bewunderte alles an ihr: Die perfekt durcheinander gewirbelten Locken und ihre feinen Gesichtszüge. Die süße Stupsnase und ihre Ohrläppchen hatten genau die richtigen Proportionen. Unter der Decke versteckte sich ihr schlanker und sinnlicher Körper. Den hatte ich heute Nacht in seiner reinen Nacktheit genießen dürfen, nachdem ich zuerst die Couch und dann sie ausgezogen hatte.

Es war jetzt nicht mehr nur ihr Äußeres, das ich so anziehend fand. In Gedanken hörte ich immer noch ihr herzhaftes Lachen, und das gestrige Gespräch hatte noch weitere Aspekte hinzugefügt – kein Gespräch von Doktor zu Patient, sondern von Franziska zu Ernst. Die Inhalte waren so spannend und persönlich, so humorvoll und bewegend, so tiefgründig und doch so voller Leichtigkeit. Weit weg von irgendeinem flüchtigen, oberflächlichen Smalltalk. Am Nachhauseweg mit ihr hatte ich dann dieses vertraute Gefühl, dass wir uns schon ewig kannten.

Ich blickte auf mein Handy: Zehn vor acht. Demnach hatte ich nur vier Stunden geschlafen. Trotzdem verspürte ich keine Spur von Müdigkeit. Eine WhatsApp-Nachricht von Klaus weckte meine Neugier:

"Hallo Ernst. Gestern war es echt wieder einmal fein mit dir. :-) Sorry, dass ich mich im Rox dann nicht mehr um dich gekümmert habe, aber ich hatte ohnehin den Eindruck, dass du eine nette Gesellschaft gefunden hattest. Wer ist die schöne Lady? Ist das leicht die schönste Biene von Linz? Ich habe dann Tanja noch heimbegleitet. Allerdings nur bis zur Wohnungstür. Da hat sie mir verklickert, dass sie nicht für eine Nacht zu haben sei, und dass ich mich doch gerne einmal bei ihr melden solle. Also nix mit Sex on the Beach. Auch nix mit Sex ohne Beach. Aber wer weiß, vielleicht bahnt sich da etwas Ernstes an. ;-) Lg Klaus"

Und wieder war ich überrascht. Da hatten Franziska und ich also die beiden noch auf der Zielgeraden Richtung Bett überholt.

Wir beide – Franziska und ich - waren gestern nach der Bar in meinem Atelier gelandet. Sie wollte ja unbedingt Bilder von mir sehen. Für das aktuelle Bild, das noch für die letzten Pinselstriche auf der Leinwand wartete, interessierte sie sich kurz. Ob das denn ihr Gesicht sei, wollte sie wissen. Nachdem ich das bejaht hatte, war dann ihr Kunstinteresse nicht mehr so groß. Die restlichen an der Wand hängenden Bilder sahen wir uns im Liegen an. Höchstwahrscheinlich war es aber nicht meine Malkunst, die ihr mehrmaliges Entzücken entlockte.

Was war das für eine Nacht gewesen. Nun aber lag ich mit voller Blase neben Franziska und wenn ich nicht wollte, dass ein Unglück passiert, musste ich mich dem Druck fügen. Leise schlich ich mich Richtung Bad. Das ist auch so ein ganz eigener Glücksmoment, sagte ich zu mir am Klo sitzend, wenn man eine übervolle Blase endlich entleeren kann. Wenn der Druck nachlässt, wird im Gehirn einiges an Dopamin freigesetzt. Schön, wenn man auf so einfache Art und Weise Glück erleben kann. Heute, so dachte ich mir, ist es aber völlig egal, was noch passieren wird, denn heute bin ich ohnehin der glücklichste Mensch auf diesem Planeten. Doch ich sollte mich irren.

Energiegeladen entschied ich mich die Zeit zu nutzen und begab mich zum Bäcker, um frisches Gebäck für das Frühstück zu besorgen. Zum Glück hatte der Sturm gerade etwas nachgelassen, doch dieser hätte mich heute wahrscheinlich ohnehin nicht aufhalten können.

Den Regenschirm nutzte ich als Tanzpartner und machte damit Gene Kelly Konkurrenz: I'm singing in the rain schmetterte ich in Gedanken. Was würden die Leute denken, wenn ich das wirklich machen würde? Und was würde sich Franziska denken, wenn ich klatschnass nach Hause kommen würde? Sie würde sich eventuell denken, dass er nun doch verrückt sei und wir mit der Therapie wieder als Frau Hummel und Herr Schwarzmüller von vorne beginnen müssen. Dieses Risiko wollte ich doch nicht eingehen – dieses Risiko, dass wir dann wieder rückfällig werden könnten, und uns wieder mit Sie anreden müssten.

Kapitel 25 | Ein grauenhaftes Frühstück

Zurück im Atelier nahm ich Franziska im Bad unter der Dusche wahr. Am liebsten hätte ich mich zu ihr gesellt und wäre ihr behilflich gewesen ihren schönen Rücken einzuseifen. Das traute ich mich aber dann doch nicht und entschied mich stattdessen, es mir bildlich vorzustellen.

Meine Hände massieren ihren Rücken – mit der richtigen Mischung aus Kraft und Erotik. Gleichzeitig bedecke ich ihren Nacken mit sinnlichen Küssen, bis über den Hals hin zu ihren Ohrläppchen. Ein sanftes Knabbern daran entlockt ihr ein leichtes Stöhnen, mit dem sie mir zu verstehen gibt, dass ich gerne mutig weiter machen darf. Von hinten bahnen sich meine Hände den Weg zu ihren perfekt geformten Brüsten. Diese umrunde ich immer und immer wieder. Dabei wird die Kreisspirale immer enger und enger, bis ich mit meinen Fingerspitzen ihre Nippel berühre. Zwischen Daumen und Zeigefinger beginne ich diese auf spielerische Art zu verwöhnen. Ihre Erregung ist deutlich spürbar. Meine auch. Sie nimmt meine Hände und führt diese behutsam nach unten über ihren atemberaubenden Bauch, vorbei an ihrem Nabel …

"Guten Morgen, Ernst!" In meinen Bademantel gehüllt stand sie da, mit ihren nassen, frechen Locken."Warst du schon unterwegs?"

"Ja, ich habe uns frisches Gebäck für das Frühstück besorgt!"

"Das ist aber lieb von dir!" Einen Kuss hätte ich mir eigentlich schon verdient. Leider kam es aber nicht dazu, stattdessen setzte sie sich zu mir.

Schweigen.

"Sapperlot, gestern haben wir es aber lang ausgehalten!" Was meinte sie damit? Das Fortgehen? Den Sex?

"Ja, das kann man schon so sagen!" Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Irgendwie war es komisch. Ich konnte es nicht genau greifen, was ich mir anders gewünscht hätte. Aber so wie es gerade war, fühlte es sich komisch an.

Sie schnappte sich ein Croissant, teilte es in zwei Hälften und strich Butter und Marmelade auf die untere Hälfte. Dann fügte sie die beiden Hälften wieder ordnungsgemäß zusammen und führte Marmelade-Butter-Croissant-Kombination zu ihrem Mund, ohne mich dabei eines Blickes zu würdigen. Es wirkte auf mich so, als ob wir schon ewig verheiratet wären. Wie zwei frustrierte Eheleute, die schon tausende Male gemeinsam gefrühstückt und deswegen keine Lust auf Unterhaltung hatten.

Etwas unsicher fuhr ich mit meinem zurechtgelegten Plan fort:"Möchtest du Tee? Ich kann dir einige Sorgen, ähm Sorten, anbieten: Gute-Morgen-Tee, Kraft-Tee, Fühl-dich-wohl-Tee …"

Sie unterbrach mich:"Hast du auch Kaffee?"

"Ja." Jetzt war ich total verunsichert.

"In der Früh trinke ich lieber Kaffee. Vor allem nach so einer durchzechten Nacht. Das kannst du sicherlich verstehen!"

Natürlich konnte ich verstehen, dass man in der Früh gerne Kaffee trank. Aber was war das für eine eigenartige Person, die mir da gegenübersaß. Franziska war mir plötzlich völlig fremd. Gestern Nacht waren wir uns so nahe gewesen. Rein körperlich gesehen geht es nicht mehr näher. Und heute? Heute war sie erschreckend distanziert. War etwas geschehen? Hatte sie eine Nachricht bekommen, von der ich nichts mitbekommen habe?

"Ist bei dir alles klar?" Zögernd stellte ich diese Frage.

"Naja, eher nicht."

"Was ist los? Sag schon!"

"Okay, jetzt wo ich nicht mehr deine Therapeutin bin, kann ich es dir ja sagen: Es gibt einen Grund, warum ich mich gestern im Rox mehr oder weniger angetrunken hatte!" Soweit – so klar. Das hatte sie ja gestern auch schon kurz erwähnt."Ich hatte gestern einen blöden Streit."

"Mit wem?"

"Mit meinem Mann."

Kapitel 26 | Da hast du den Kaffee

Gestartet war der Tag mit einem perfekten Lächeln. Nun hatte sich dieses Lächeln in ein sabberndes Fletschen verwandelt. Franziska saß mir beim Frühstück gegenüber und versuchte, so etwas ähnliches wie einen entschuldigenden Dackelblick aufzusetzen. Dieser Versuch scheiterte kläglich. So sah sie mich einfach nur blöd an. Sie habe es mir schon früher sagen wollen, dass sie verheiratet sei, aber dafür habe es keinen geeigneten Moment gegeben, erklärte sie mit leiser Stimme. Ich blieb stumm. Mein Gesichtsausdruck verriet ohnehin meine Gedanken und Gefühle. Ich war ratlos, hilflos, verärgert, traurig und vor allem wütend.

Den Kaffee konnte sie jedenfalls nicht mehr trinken. Der landete nämlich auf ihr, beziehungsweise auf meinem Bademantel.

"Da hast du deinen Kaffee!" So etwas hatte ich zuvor auch noch nie getan.

Es tue ihr leid, meinte sie dann, dass sie da anscheinend etwas falsch interpretiert habe. Sie hätte gedacht, dass ich auch nur auf ein sexuelles Abenteuer aus war – oder so. Den Bademantel würde sie ersetzen, bot sie mir an. Sie solle den Fetzen behalten und sich schleichen, schrie ich sie an. Das tat sie dann auch – ziemlich schnell sogar. Sie packte ihren Kram zusammen und flüchtete im Bademantel.

"Scheiße, Scheiße, Scheiße!" Ich schrie mir die ganze Wut aus der Seele. Die Leinwand in Händen rannte ich zum offenen Fenster. Unter dem Fenster stand noch Franziska und wartete anscheinend auf ein Taxi. Ich zwang mich, innezuhalten und zählte langsam bis zehn. Das sei eine gute Methode, um die größte Wut und die damit verbundene destruktive Energie etwas abzufedern – den Tipp hatte ich von meiner lieben Lebensberaterin Emilia Goldberg bekommen. Seit dem leidigen Leinwandunfall mit Herrn Vogel habe ich diese Methode schon öfters verwendet und damit sicherlich größeren Schaden vermieden.

💡 Wenn du wütend bist, dann ist es wichtig, dass du diese Wut herauslassen kannst. Hineinfressen ist auf keinen Fall ratsam, das würde dich mit der Zeit innerlich auffressen. Allerdings kann es für dich und für deine Umwelt ratsam sein, wenn du zuerst einmal tief durchatmest, bevor du deiner Wut freien Lauf lässt.

Vielleicht gelingt es dir dann, die Situation so einzuschätzen, dass du dir auch etwaiger Konsequenzen bewusst werden kannst. Wenn du nun zum Beispiel in einem Streit dein Gegenüber verletzen könntest, dann muss dir bewusst sein, dass da eine hohe Summe an Schmerzensgeld auf dich zukommen könnte, vor allem, wenn dein Gegenüber den gleichen Anwalt wie der Herr Vogel hat.

Vielleicht findest du in Zukunft andere Wege, um dich deiner Wut zu entledigen: Im Wald schreien, einen Boxsack bearbeiten, ein Kunstgemälde mit Pinseln bewerfen …

Kapitel 27 | Die Pinsel-Wurf-Technik

In zahlreichen Varianten zerbeule ich Franziskas Auto, schlage sämtliche Fenster ihres Hauses ein und verwüste den Garten. Ihr Mann und ich werden Verbündete und gemeinsam klappern wir mit einem Baseballschläger in den Händen die Linzer Lokale ab, um Franziska Hummel zu finden und sie windelweich zu prügeln. Die restliche Männerwelt soll vor dieser Schlampe geschützt werden. Das letzte Ziel unseres Racheaktes ist ihre Praxis in der Scharitzerstraße 5. Mit großen Buchstaben besprühen wir die Hauswand: H, U, R, E.

Irgendwie fühlte es sich gut an, diese Rachegedanken zu hegen. Allerdings war ich mir auch sicher, dass ich nichts davon umsetzen würde. Dafür war ich einfach zu faul. Doch dann hatte ich eine neue Idee. Das aktuelle Kunstwerk gehörte noch einmal überarbeitet. Wenn ich das Bild jetzt so ansah, fand ich, dass ich Franziskas Gesicht viel zu schön getroffen hatte.

Ein paar Pinselstriche und aus der niedlichen Stupsnase wurde ein gewaltiger Zinken, der makellose Teint verwandelte sich in ein pickeliges Faltengesicht, und aus den Ach-so-perfekten Zähnen wurde ein Pferdegebiss, das man so nur aus diversen Horrorfilmen kennt. Ich betrachtete das neue Ergebnis: Schon besser. Aber irgendetwas fehlte noch. Aber was?

Ich ging zum Kühlschrank, um mich abzukühlen, meine Gedanken neu zu sortieren und um mir mein drittes Bier an diesem Tag zu holen. Ja, es war schon mein drittes – und das, obwohl es noch vor Mittag war. Eigentlich hatte ich seit der ersten Therapiesitzung meinen Alkoholkonsum stark reduziert und wollte dieses Vorhaben auch weiterverfolgen. Aber so wie es aussah, war mein Bierdurst größer denn je – und daran war sie schuld. Nur sie. Sie, deren Abbild mich mit grässlichen Schweinsaugen anstarrte.

Und plötzlich war sie da – die geniale Idee: Ich nahm einen Pinsel, tauchte ihn in Farbe und warf ihn aus einiger Entfernung Richtung Leinwand. Und dann noch einmal und noch einmal. Dabei vergrößerte ich immer mehr den Abstand zur Leinwand. Der Pinsel war mein Dartpfeil – Franziskas Fratze mein Ziel. Ich betrachtete sie erneut und stellte fest: Es war gut so.

Kapitel 28 | Hangover

Drei Bilder habe ich dann noch gemalt. Das gleiche Motiv – die gleiche Technik. Franziskas Gesicht in eine Fratze verwandeln, um sie dann mit Pinsel und Farbe zu bewerfen. So eine Wut kann einen mit Energie versorgen – und durstig machen. Bis ich das Atelier verließ, war ich eindeutig zweistellig beim Zählen der Bierflaschen, die ich in meine Aktionskunst miteinfließen ließ. Ein paar warf ich sogar ungeöffnet gegen die Leinwand. Das war eine ganz neue Erfahrung für mich. Und es ist wichtig für einen Künstler, sich immer wieder Neuem zu öffnen, dachte ich mir und öffnete zum Abschluss noch ein letztes Bier.

Die Sonne war schon längst untergegangen, beziehungsweise würde sie sehr bald wieder aufgehen, als ich mich auf den Heimweg in die Dametzstraße 8 begab. Diese Strecke schaffe ich normalerweise fast in fünf Minuten, wenn ich mich beeile und den direkten Weg nehme. An diesem Tage, in dieser Nacht, entschied ich mich nicht für den direkten Weg. Zu Hause angekommen fiel ich komatös ins Bett.

Unsanft wurde ich einige Stunden später aus meinem Koma geweckt. Ich muss das nächste Mal in so einem Fall unbedingt die Haustürglocke zerstören, schrieb ich mir gedanklich hinter die Ohren. Bevor ich mich das nächste Mal in so einem Zustand ins Bett begebe, muss diese verdammte Glocke außer Kraft gesetzt werden. Das ist doch ungeheuerlich – hört diese aufdringliche Person denn überhaupt nicht auf zu läuten. Und das um diese Uhrzeit. Unverschämt an einem Montagnachmittag unangemeldet zu stören.

Ich war mir aber dann doch nicht mehr so sicher, ob denn diese Person nicht vielleicht doch eventuell, möglicherweise vorher telefonisch versucht hatte, mit mir Kontakt aufzunehmen. Mein Handy lieferte mir ein Indiz dafür: Acht Anrufe in Abwesenheit und drei ungelesene Nachrichten von Emilia Goldberg.

Mir schoss es wie ein Blitz ein. Wenn das nun Emilia Goldberg war, die da vor der Tür stand? Ich versuchte krampfhaft den gestrigen Tag zu rekonstruieren. Das menschliche Gehirn ist schon eine sehr komplexe Sache. Es ist so aufgebaut, dass es unwesentliche Details nicht abspeichert, damit es zu keinem Overload kommen kann. Gestern war anscheinend so ein Tag mit vielen unwesentlichen Details gewesen, während aus heutiger Sicht die Gefahr für einen Overload gefährlich hoch war. In vorsichtigem Tempo begannen sich meine Synapsen wieder zu organisieren.

Und dann tauchten die Bilder wieder auf. Etwas verschwommen, aber sie waren da. In chronologischer Reihenfolge präsentierte sich der Hangover: Das Aufwachen neben der wunderschönen Biene, die musikalische Fantasie, im Regen vor Freude zu tanzen und die erotische Fantasie mit ihr unter der Dusche. Schmerzhaft erinnerte ich mich dann an ihr Geständnis beim Frühstück, als sie mir verriet, dass sie verheiratet sei. Daraufhin hatte ich ihr den Kaffee ins Gesicht geschüttet. Dieser Gedanke bewirkte bei mir wieder eine gewisse Genugtuung. Auch die Tatsache, dass sie dann in einem (meinem) Kaffee-getränkten Bademantel angstvoll davongerannt war, verlieh mir ein hämisches Grinsen. Danach konnte ich mir nur noch daran erinnern, reichlich Bier getrunken zu haben.

Kapitel 29 | Die Vogel-Strauß-Taktik

Vorsichtig öffnete ich das erste SMS:"Hallo Ernst. Was ist los mit dir? Geht es dir gut? Was ist denn im Atelier passiert? Ich mach mir Sorgen! Lg Emilia"

Scheiße! Jetzt fiel es mir wieder ein: Die Verunstaltung von Franziskas Gesicht (also von dem Bild), die neue Pinsel-Wurf-Technik und dann noch das Bierflaschen-Werfen gegen die Leinwand. Das musste jetzt wie die totale Apokalypse aussehen: verschmierte Ölfarben auf den Wänden, verschüttetes Bier und tausende Glasscherben. Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Das zweite SMS stresste mich noch zusätzlich:"Bitte melde dich! Wir müssen reden!"

Also, das kann ich natürlich nicht. Zumindest nicht heute und nicht in meinem aktuellen Zustand. Da muss ich mir zuerst noch gut überlegen, wie ich Emilia das alles schonend erklären kann. Wobei - schonend ist ohnehin nicht mehr möglich. Eines ist auf jeden Fall sonnenklar: Alles war die Schuld von Franziska Hummel. Und somit traf auch Emilia Goldberg eine gewisse Teilschuld, denn sie hatte mich vor ein paar Wochen dazu gezwungen zu dieser Schlampe in Therapie zu gehen. Ein subtiles Gefühl sagte mir allerdings, dass diese Verteidigungsstrategie noch nicht ganz ausgereift war.

SMS Nummer drei:"Nachdem du nicht abhebst, werde ich nun zu dir nach Hause kommen!"

Somit hatte ich die Bestätigung dafür, dass es zu 99% Emilia Goldberg war, die immer noch vor verschlossener Tür stand und sich den Finger wund klingelte. Es könnte aber auch ein dahergelaufener Sandler sein, oder der Briefträger, oder irgendein Lausbub. Zwar nicht ganz so wahrscheinlich, aber durchaus möglich. Abgesehen davon machte es absolut keinen Sinn, in meinem aktuellen Zustand die Tür zu öffnen. So entschied ich mich für das, was ich am besten konnte: Totstellen.

💡 Die Vogel-Strauß-Taktik ist nach wie vor in unseren Breiten eine durchaus beliebte Variante, Problemen und Sorgen aus dem Weg zu gehen: Man stecke den Kopf in den Sand und hoffe darauf, dass das Schicksal schon irgendwie die aktuelle missliche Lage wieder zum Guten wenden wird.

Leider funktioniert das aber überhaupt nicht. Die Probleme verschwinden nicht von alleine. Das unangenehme an dieser Taktik ist , dass die Gesamtsituation nur noch blöder und blöder wird. Denn wir haben zu dem misslichen Problem dann noch ein zusätzliches: Sand in den Ohren.

Nach gefühlt einer halben Stunde hörte die Glocke auf mich zu malträtieren. Entweder, weil sie nun endlich kaputt war, was mir nur recht sein konnte, oder weil die Person schließlich eingesehen hatte, dass sie gegen mich keine Chance hatte. In der Disziplin Totstellen bin ich unschlagbar.

Leider war ich nicht tot. Es wäre mir auf jeden Fall lieber gewesen. Rein körperlich gesehen, ging es mir superdreckig. Das war schon schlimm, aber der verdammte Liebeskummer riss mir das Herz heraus. Diesen Schmerz kannte ich so noch nicht – nicht in dieser Intensität. Damals bei Anna-Marie hatte es mich schon auch getroffen, als sie mich verlassen hatte. Aber es war nicht so schmerzhaft.

Eines stand für mich fest: Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Die nächste Stufe auf diesem Leidensweg musste demnach der Tod sein. Da war ich sicher. Todsicher.

Kapitel 30 | Eine schlimme Umarmung

Die nächsten Wochen spielte ich den Blues des Lebens in allen Tonarten. Dieses Lied konnte ich mittlerweile auswendig. Jahrzehntelanges Training. Es war so gesehen nichts Neues für mich. Auch für meine Freunde und meine Mutter war es nichts Außergewöhnliches. Allein Emilia Goldberg tat sich noch schwer mit der Tatsache, dass Künstler ab und zu eine kreative Schaffenspause einlegen müssen, um dann wieder zu neuen Höhenflügen aufbrechen zu können. Das musste sie erst lernen.

So versuchte sie mich am Anfang noch täglich zu erreichen. Mit der Zeit nahm diese Intensität zum Glück ab. Nach Woche drei stellte sie diesen aussichtslosen Kampf ein. Endlich. Dafür tauchte unerwarteterweise jemand anderes auf. Unüberlegt öffnete ich die Tür.

Otto, und vor allem dessen Hartnäckigkeit, hatte ich überhaupt nicht auf dem Schirm. Mit schlecht vorbereiteten Ausreden versuchte ich ihn abzuwimmeln: Es sei gerade ungünstig, weil es mir nicht so gut gehe. Er schob sich an mir vorbei und meinte, dass er genau deswegen hier sei.

"Wir machen uns Sorgen um dich. Nicht dass du uns verdurstest", versuchte er einen Scherz zu machen.

"Danke, bin gut versorgt!" Hunderte Bierflaschen dienten als Beweis. Gemeinsam mit den zahlreichen Pizzakartons, ungewaschenen Unterhosen und so manchem Essensrest stellten sie ein Bild von Traurigkeit dar. Otto schob einige Kartons zur Seite und nahm ungefragt auf der Couch Platz.

"Klaus hat uns gesagt, dass du dich schon länger nicht mehr zurückgemeldet hast!"

"Ich war beschäftigt."

"Ja, das sieht man." Sein Blick deutete auf das vor ihm ausgebreitete Chaos.

"Dir entgeht ja gar nichts", antwortete ich sarkastisch.

"Was ist los mit dir, Ernst? Was ist in den letzten Wochen passiert? Erzähl schon!"

Erzählen wollte ich eigentlich gar nichts. Das war so nicht der Plan. Wobei, geplant hatte ich in letzter Zeit nicht wirklich viel. Ottos hartnäckiger Dackelblick gab mir aber dann den nötigen Schubs, und so öffnete sich zuerst mein Mund und dann mein ganzes verletztes Herz. Ich erzählte ihm, was mit Franziska passiert war und die damit verbundene Achterbahn der Gefühle. Sein mitfühlender Kommentar tat gut.

"Scheiß Weiber!"

"Ja, das kannst du laut sagen." Schön, wenn einen jemand versteht.

"Komm her, lass dich drücken!" Otto nahm mich in den Arm. Anfangs fühlte es sich gut an. Doch dann wurde es schlimm. Ich fühlte, wie seine Hand auf meinem Rücken langsam auf und ab wanderte. Ich erstarrte. Was passierte da gerade? Die Bewegungen wurden größer und größer bis eine Hand dann doch tatsächlich auf meinem Hintern landete.

"Scheiße, was machst du da?" Ich riss mich aus der Umarmung und nahm wieder in meinem Fauteuil Platz.

"Oh, entschuldige." Er wich meinem Blick aus. Unsicher setzte er sich wieder auf die Couch.

"Ich dachte …", stotterte er.

"Was dachtest du?" Ich konnte mit dieser Situation so überhaupt nicht umgehen – und auch er war sichtlich überfordert.

"Ich dachte, du magst mich."

"Was?" Meine Stimme wurde lauter.

"Naja, du hast mich doch schon manchmal so … so angesehen. Und da hätte ich gedacht du bist vielleicht auch … zumindest so ein … bisschen schwul."

Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Dass Otto schon lange keine Freundin gehabt hatte, oder genaugenommen noch nie, war uns schon bewusst. Wir hatten darüber auch unsere Scherze gemacht, wenn er einmal nicht Teil unserer Runde war. Vor allem Richard machte sich darüber lustig. Aber dass er wirklich homosexuell war, das dachte wahrscheinlich keiner von uns.

"Ich …, ich geh dann mal lieber." Er stand auf.

"Ja, ist wahrscheinlich besser so." Ich blieb sitzen.

"Können wir das für uns behalten?" Unsicher schaute er mich an.

"Ja, das wäre mir auch lieber!"

Kapitel 31 | Ein engelhafter Brief

Die prekäre Situation mit Otto machte meine Situation nun noch aussichtsloser, denn in Andy's Cool wollte ich mich unter diesen Umständen nicht blicken lassen. Mir wurde klar, dass ich meinen Depri-Blues dieses Mal länger als sonst spielen würde. Das Ende des Liedes fand eigentlich immer in Andy's Cool statt. Nach einer mehr oder weniger langen Depriphase landete ich normalerweise irgendwann wieder in meinem Stammlokal. Weder Klaus noch die anderen stellten dann unnötige Fragen. Es war jedes Mal das gleiche Zeremoniell: Ich setzte mich zu ihnen, bezahlte eine Runde, und nach dem ersten Prost war es so, als wäre ich nie weg gewesen. Dieser Rettungsanker fehlte mir nun.

Ein neuer Tiefpunkt war ein Brief von Emilia Goldberg. Ich zögerte lange, ob ich ihn überhaupt öffnen sollte. Meine Neugier war dann aber doch zu groß.

"Lieber Ernst, ich kenne und schätze dich nun schon so viele Jahre. Gerne blicke ich auf die vergangene Zeit zurück. Unsere Begegnungen und unsere Gespräche sind wertvolle Goldstücke in meiner Erinnerungsschatzkiste. Vor allem dein Talent bewundere ich sehr. Aber das weißt du ohnehin. Jeden Morgen sehe ich dein ausdruckstarkes, lebensbejahendes Bild "Le Printemps Est Arrivé". Was ist aus dem Menschen Ernst Schwarzmüller geworden, der dieses wunderbare Werk geschaffen hat?

Nachdem du mir leider keine Chance gibst, um persönlich miteinander zu reden, habe ich zuerst mit deiner Mutter und dann noch mit Dr. Franziska Hummel gesprochen."

Tränen kullerten über meine Wangen. Ich benötigte ein Taschentuch. Aus Mangel an Alternativen schnäuzte ich mich in mein T-Shirt. Ich erinnerte mich, dass meine Mutter vergangene Woche eine sehr besorgte Mail geschrieben hatte. Von Franziska hatte ich auch eine SMS erhalten. In der wiederholte sie noch einmal, dass ihr das Geschehene sehr leidtue. Sie würde mir auch eine Therapiestunde anbieten. Natürlich wäre diese kostenlos für mich, hatte sie noch hinzugefügt. Ich konnte mich nur noch erinnern, dass ich daraufhin die Telefonnummer von Franziska Hummel blockiert hatte. Nein! Mit dieser Dame wollte ich wirklich nichts mehr zu tun haben. Was bildete sie sich ein, mir Therapiestunden anzubieten. Sie war es, die mich in diese schier ausweglose Lage brachte. Mit zittrigen Händen nahm ich den Brief von Emilia Goldberg wieder zur Hand.

"Frau Hummel hat mir dann erzählt, was passiert ist. Du sollst wissen, dass du mein vollstes Mitgefühl hast. Ich glaube, dass sie selbst ein sehr schlechtes Gewissen wegen dieser Sache hat. Jetzt kann ich mir zumindest das Chaos im Atelier erklären. Dieses habe ich mittlerweile wieder so weit auf Vordermann gebracht. Die Dracaena Marginata habe ich zu mir nach Hause mitgenommen. Du sollst wissen, dass du jederzeit im Atelier willkommen bist. Es wird dich niemand stören.

Wenn du mal jemanden zum Reden brauchst: Ich bin für dich da!

In Liebe, Emilia"

Mir fehlten die Worte. Zum einen spürte ich so etwas wie Dankbarkeit, dass ich so einen wunderbaren Menschen zu meinen Freunden zählen durfte. Auf der anderen Seite hatte ich ein unendlich schlechtes Gewissen ihr gegenüber. Was hat Emilia Goldberg mit mir schon alles durchmachen müssen? Und trotzdem steht sie noch zu mir. Ein wahrer Engel.

💡 "Du bist ein Engel!" Hast du auch schon einmal jemand sagen hören? Hast du das schon über einen anderen besonderen Menschen gedacht oder gesagt? Könnte es sein, dass manche Mitmenschen so über dich reden?

Man muss dafür nicht unbedingt diesen beinahe heiligen Begriff "Engel" verwenden, aber ich bin mir sicher, dass jeder von uns ab und zu für andere ein Segen sein kann. Ein Geschenk. Da genügt oft nur ein Wort, eine kleine Berührung oder ein warmer Blick und man erzeugt beim anderen himmlische Gefühle. Ist das nicht göttlich?

Kapitel 32 | Die rettende Idee

Wie ein kleines Häufchen Elend saß ich da. Es war schwer, meine Gedanken zu sortieren. Viel zu viel prasselte auf mich ein und gleichzeitig war da diese übergroße Leere. In den letzten Wochen war es immer dunkler und dunkler in mir geworden. Die Lust zu leben war auf minimalen Erhaltungstrieb verebbt. Was hatte mein Leben für einen Sinn? Ich hatte keine Familie – abgesehen von meiner Mutter, die ich ein paar Mal im Jahr besuchte. Mein Freund Klaus war nun mit Tanja zusammen und hatte daher wenig Zeit für mich. Die anderen waren eigentlich nur Saufkumpanen, mit denen man gut um die Häuser ziehen konnte. Das konnte ich aber auch alleine ganz gut. Definitiv.

Plötzlich bahnte sich eine Idee durch das Gedankenchaos. Das könnte wirklich die Lösung sein! Nur nichts überhasten, dachte ich mir. Ich tat dann etwas, das ich schon länger nicht mehr gemacht hatte: Ich setzte einen Tee auf. Ich entschied mich für den Gute-Gedanken-Tee. Der Tee zeigte Wirkung: Ja, das war die Lösung. Die Lösung für all meine Probleme: Ich würde mir das Leben nehmen.

Oft sind die schlichten, einfachen Ideen die wirklich genialen. Gleichzeitig war mir bewusst, dass - wenn ich mich für diese Lösung entschied - es perfekt sein musste. Es musste wie ein Unfall aussehen. Niemand sollte auch nur im Entferntesten daran denken, dass ich es absichtlich getan haben könnte.

Ich dachte zurück, wie sehr mein Studienkollege Erich damals gelitten hatte, weil sich sein Bruder das Leben genommen hatte. Aus dem lustigen, sorglosen Zeitgenossen wurde ein verschlossener, trauriger Typ. Ihn plagten Schuldgefühle, von wegen, dass er sich zu wenig Zeit für seinen Bruder genommen hatte. Und dass sein Bruder darunter gelitten hätte, nicht dasselbe künstlerische Talent wie Erich geerbt zu haben.

Ich wollte auf jeden Fall, dass meine Hinterbliebenen nicht mit dieser Bürde leben müssen. Niemand sollte dieses Schuldgefühl erleiden müssen, wenn sich ein enger Angehöriger das Leben nimmt.

Doch um das zu vermeiden bedarf es sorgfältiger Planung.

Kapitel 33 | Franziskas Geschichte

"Hallo Frau Hummel!" Frau Goldberg begrüßte mich freundlich. Ich hätte es ihr auch nicht verübeln können, wenn sie mir als Begrüßung eine verpasst hätte. Schließlich war ich ziemlich offensichtlich der Grund dafür, warum ihr Schützling Ernst in eine depressive Phase geschlittert war. Doch mit einer gütigen Willkommensgeste bat sie mich ins Haus. Bei einer Tasse Tee erzählte ich ihr, wie es zu dieser blöden Sache gekommen war.

"Begonnen hat alles damit, dass ich mit meinem Mann Ferdinand einen Streit hatte, wegen einer Affäre mit unserer Nachbarin. Ferdinand hat dann alles abgestritten, und nur gemeint, dass er mich noch nie betrogen hätte. Ich kenne aber die traurige Wahrheit, weil es mir unsere Nachbarin selbst gebeichtet hatte. Das tat dann noch mehr weh, dass er mir da so mitten ins Gesicht gelogen hatte. Ich schrie ihn an, dass er sich schleichen solle. Und er schrie zurück, dass ich das selber könne. Und so habe ich mich dann ins Rox geschlichen, mit dem Vorsatz, mich ordentlich zu betrinken.

So habe ich den ganzen Abend allein an der Bar verbracht. Eigentlich hatte ich meine beste Freundin Nadine angerufen, damit sie mitkommt. Die war aber wieder einmal in Tschechien, um sich die Nägel machen zu lassen. So hatte ich dann viel zu viel Zeit mit mir alleine, und dachte die ganze Zeit über mein verkorkstes Leben nach.

Entschuldigen Sie, Emilia. Ich wollte Ihnen da nicht mein ganzes Herz ausschütten. Ich weiß auch nicht, aber irgendwie wirken Sie so vertrauensvoll."

"Erzählen Sie ruhig weiter. Ich höre Ihnen gerne zu. Bin schon gespannt, wann Ernst in dieser Geschichte auftaucht. Aber zuerst noch - aber nur wenn Sie wollen: Warum ist Ihr Leben so verkorkst?"

"Naja, das mit Ferdinand läuft schon länger nicht mehr so richtig gut. Da ist zum einen die Sache, dass wir keine Kinder bekommen können, und dann noch dieses leidige Thema mit seiner Mutter. Die wohnt bei uns im Haus, weil sie ja sonst niemanden hat. Sie ist schon nett, aber … Nein, das würde den Rahmen jetzt wirklich sprengen. Also, ich war im Rox an der Bar und sagen wir mal so: Ich war nicht mehr ganz nüchtern.

Es war dann sozusagen Schicksal, dass sich die Wege von Ernst und mir noch kreuzten. Wenn er nur eine Viertelstunde später gekommen wäre, dann wäre das alles nie passiert. Ich hatte meine Getränke schon bezahlt und wollte nur noch austrinken. Da stand plötzlich Ernst hinter mir und hat mich angesprochen. Ich war froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen und wir haben uns gut unterhalten. Er erklärte mir, dass es ihm schon wieder viel besser ginge und er deswegen die Therapie beenden wolle.

Frau Goldberg schaltete sich ein:"Das wusste ich noch gar nicht, dass er die Therapie beenden wollte. Die Therapie, so sagte er mir, würde ihm sogar außerordentlich gut gefallen. An dieser Stelle möchte ich mich einmal bei Ihnen bedanken, Frau Hummel: Sie haben da anscheinend bei Ernst wirklich gute Arbeit geleistet. Innerhalb kürzester Zeit ist es ihm deutlich besser gegangen."

Ich musste an dieser Stelle ihr Kompliment richtigstellen:"Das war wahrscheinlich eher der Zauber des Frühlings und nicht das Ergebnis meiner Arbeit als Psychologin!"

Frau Goldberg lachte:"So oder so: Er hat jedenfalls zu seiner wunderbaren Schaffenskraft zurückgefunden. Ein Beweis dafür hängt in meinem Schlafzimmer. Das müssen Sie sehen!" Mit einer einladenden Handbewegung deutete sie mir an, ihr ins Schlafzimmer zu folgen. Beide standen wir vor diesem wunderbaren, kraftvollen Kunstwerk "Le Printemps Est Arrivé".

"Ich muss Ihnen recht geben, Frau Goldberg. Dieses Bild muss jemand gemalt haben, der voll und ganz Ja zum Leben sagt."

"Ja, ich finde auch. Es war eine kraftvolle, leidenschaftliche Energie, die er beim Malen ausgestrahlt hat. Ich war dabei und habe ihm mit Genuss zugesehen."

Wir gingen wieder zurück in den Salon, wo Frau Goldberg mir noch einmal Tee nachschenkte.

"Erzählen Sie bitte weiter!"

So erzählte ich ihr von dem weiteren Verlauf des Abends. Wir boten einander schnell das Du-Wort an und für mich war es, als hätte sich eine schwere Tür geöffnet.

"Ich wollte Ferdinand verletzen. Einfach nur Rachesex! Ja, das war es - ich wollte mich an meinem Mann rächen. Er war es, den ich verletzen wollte. Niemals war es meine Absicht, Ernst damit weh zu tun. Ich wollte mich deswegen bei Ernst in den letzten Tagen noch einmal entschuldigen. Er hat aber leider nicht abgehoben."

Frau Goldberg atmete schwer:"Dieses Problem kenne ich!"

Sie erzählte mir, dass sie Ernst schon zigmal angerufen hatte, er rufe aber nicht zurück. Weder SMS noch Mail hatte er beantwortet. Sie hatte sich große Sorgen gemacht, nachdem sie im Atelier ein Riesen- Desaster vorgefunden hatte.

"Und er meldet sich immer noch nicht! Wahrscheinlich hat er Angst, dass ich auf ihn böse sein könnte. Auf meinen Ernst kann ich aber gar nicht böse sein. Dafür schätze ich ihn viel zu sehr – als Mensch und als Künstler. Ich finde es nur schade, dass er manchmal sein Potential so vergeudet. Ab und zu muss ich ihm dann einen liebevollen Tritt in den Hintern verpassen."

Dem Ernst sei viel zu wenig bewusst, welch wunderbares Talent er mitbekommen hat. Ein Geschenk des Himmels. So ein Geschenk dürfe man nicht so einfach vergeuden, meinte Frau Goldberg mit sanfter Strenge in der Stimme. Ich nickte bestätigend.

💡 Du hast sicherlich auch so ein Geschenk bekommen. Vielleicht ist es dir noch gar nicht so bewusst, weil es nicht so groß, nicht so auffällig ist. Würdest du dir wünschen, dass dein Talent beispielsweise singen, sporteln oder malen wäre - ein Talent mit dem du bei sämtlichen Wettbewerben aufgeigen könntest?

Aber vielleicht ist dein Talent ein verstecktes, nicht so auffälliges Geschenk. Kannst du gut zuhören? Fallen dir im richtigen Moment gute Fragen ein? Hast du ein schönes Lächeln? Du siehst schon, es gibt viele kleine aber wunderbar wertvolle Talente. Nütze dein Talent und sei ein Geschenk für die Welt!

Kapitel 34 | Emilia und Franziska

"Möchtest du noch Tee, Franziska?"

Frau Goldberg wurde mir immer vertrauter. Nicht nur der Tee, sondern auch unsere Gespräche waren herzerwärmend. So saßen wir noch lange in ihrem schönen Salon beisammen. Beim Abschied hatte ich das vertraute Gefühl, eine neue Freundin gefunden zu haben.

"Danke, Franziska, dass du dir die Zeit genommen hast! Du bist jederzeit wieder herzlich willkommen!"

"Danke, Emilia!"

Langsamen Schrittes ging ich heimwärts. Was ist da vor ein paar Wochen mit Ernst und mir geschehen? Warum hat uns das Schicksal auf diese Art und Weise zusammengeführt? Ich ließ die Zeit mit Ernst im Atelier noch einmal Revue passieren.

Eigentlich hätte ich mir von Anfang an denken können, dass es Ernst ernst mit mir meinte. Das Bild, das er von mir gemalt hatte, war Beweis genug, oder? Vielleicht hatte ich diesen Gedanken in dem Moment mehr oder weniger bewusst verdrängt. Mein Verlangen nach ihm, beziehungsweise danach, mit ihm zu schlafen wurde auf jeden Fall größer und größer, nachdem ich das Bild von mir gesehen hatte.

So landeten wir schnell auf der Couch wo nicht er mich, sondern ich ihn geküsst habe. Anfangs berührten sich nur unsere Lippen. Sanft knabberte ich an seiner Unterlippe. Zur selben Zeit spürte ich seine Hand meinen Rücken streicheln. Ich fühlte mich geborgen und erotisiert zugleich. Unsere Küsse wurden immer heftiger, bis sich meine Lippen lösten und ihren Weg über seinen Hals nach unten suchten. Dabei streifte ich Sweater und T-Shirt über seinen Kopf, um meine Küsse auf seiner nackten Haut fortsetzen zu können. Meine Zunge umkreiste seine Brustwarzen, während sein Atmen sich in Stöhnen verwandelte. Ich sah ihn an. Sein erwartungsvoller Blick schien zu sagen, dass er es auch wolle. Er hat dann die Couch ausgezogen, ich ihm seine Hose. Wir hatten wunderbaren Sex.

Am nächsten Morgen war es nicht mehr ganz so wunderbar. Das gemalte Bild von meinem Gesicht schien mich die ganze Zeit anzusehen und mich zu verurteilen:"Was ist da gestern Nacht passiert? Was hast du dir dabei gedacht? Warum hast du ihm noch nicht gesagt, dass du verheiratet bist?" Ja, ich hätte es ihm sagen müssen.

Beim Frühstück haben wir dann kaum miteinander gesprochen. Ich traute mich nicht, ihm in seine Augen zu sehen. Draußen stürmte und regnete es. Tief in mir drinnen schaute es ähnlich aus. Das schien er zu merken. Er schien zu merken, dass etwas nicht in Ordnung war. Ja, meine Ehe war nicht in Ordnung, und dass ich Ernst so egoistisch benutzt hatte, war auch nicht in Ordnung. Irgendwie stolperte die Wahrheit dann doch ans Tageslicht.

Die Tatsache, dass ich verheiratet bin, löste bei Ernst einen Reflex aus. Er schüttete den Kaffee in mein Gesicht. Dass Ernst so etwas machen würde, hätte ich nie erwartet, aber ich konnte ihn verstehen. Dann wurde er immer wütender. Sein zorniger Blick machte mir Angst. Schleunigst packte ich meinen Kram zusammen und flüchtete in seinem vom Kaffee besudelten Bademantel. Zum Glück kam dann bald das rettende Taxi.

Schade, dass es so enden musste. Wäre es nicht schön, wenn wir diese Sache wieder bereinigen könnten? Wäre es nicht schön, wenn wir uns dabei versöhnlich umarmen würden? Es wäre doch schön, wenn wir uns wieder in die Augen sehen könnten, denn er hat wunderschöne Augen.

Kapitel 35 | Ernst macht ernst

Ich schaute in mein Spiegelbild und sagte zu mir:"Ernst, dein Leben hat wieder einen Sinn! Nun hast du ein klares Ziel." Um dieses Ziel zu erreichen gab es aber noch einige Fragen zu beantworten: Wie sollte ich mir das Leben nehmen? Was war bis dahin noch alles zu erledigen? Vielleicht sollte ich mir ein konkretes Datum überlegen, damit ich mir einen Zeitplan zurechtlegen konnte? Wie sollte ich meine Wohnung hinterlassen? Perfekt aufgeräumt war ausgeschlossen, das würde verdächtig aussehen. Normalerweise liegen da schon ein paar Dinge herum, die sich in einer pikobello aufgeräumten Wohnung entweder in Kästen, Wäschekörben oder Mülleimern befinden. Den jetzigen Zustand musste ich aber definitiv verändern. Jeder mittelmäßige Hobbysoziologe würde sofort zu dem Schluss kommen, dass der Bewohner dieser Wohnung möglicherweise depressiv, in weiterer Folge somit suizidgefährdet, gewesen sein könnte.

Leider war es also ausgeschlossen, meine Wohnung in dem aktuellen Zustand zu belassen. Keine Ahnung, wo man bei dem Chaos anfangen sollte. Meine erste Idee war es, ein Müllauto zu stehlen und dieses unter meiner Wohnung zu parken. Dann müsste ich nur den gesamten Kram aus dem Fenster werfen. Diese Aktion schien mir dann aber doch etwas zu auffällig. Gut möglich, dass die Polizei davon Wind bekommen würde. Und da ich kein geübter Müllautodieb bin, würde sie mich auch sicherlich schnappen, abführen und ins Gefängnis stecken. Das würde meinen Zeitplan gewaltig über den Haufen werfen. Diese Idee schied somit aus.

Tja, aller Anfang ist schwer. Was sollte dann der erste Schritt sein? Naturellement, selbstverständlich! Instinktiv begab ich mich in die richtige Richtung. Mit einem geübten Handgriff öffnete ich den Kühlschrank. Ein Bier in Händen begab ich mich wieder zurück zur Couch. Die ersten Schritte waren getan.

Aber wie geht es weiter? Was würden die nächsten Schritte sein? Vor allem musste ich darauf achten, dass alles so normal wie irgendwie möglich aussah. Ich musste mich wie ein normaler Mensch verhalten. Also jemand der eben nicht vorhatte sich das Leben zu nehmen. Würde dieser jemand seine Freunde um Hilfe bitten? Nein, das glaube ich nicht, dafür ist der durchschnittliche Österreicher viel zu stolz.

💡 Geht es dir auch manchmal so, dass du gut Hilfe benötigen könntest? Du möchtest aber keine Hilfe annehmen – und schon gar nicht jemanden um Hilfe bitten. Denn das wäre ja ein Zeichen der Schwäche. 

Andererseits - kennst du das auch, dass es ein schönes Gefühl sein kann, jemandem zu helfen? Wie geht es dir, wenn dich jemand um Hilfe bittet? Kann es sein, dass sich das gut anfühlt, weil du gebraucht wirst?

Da muss man wahrscheinlich Psychologie studieren, um das verstehen zu können.

Fazit: Ein normaler Mensch würde sich in meiner Situation alleine durchwurschteln. Das mit der Wohnung musste ich deshalb alleine schaffen, aber es musste nicht sofort erledigt werden, da gab es noch viele andere Punkte, die vielleicht einfacher zu managen waren. So erstellte ich eine Liste mit den Dingen, die ich abarbeiten musste, bevor ich den allerletzten Schritt setzen konnte.

Kapitel 36 | Freunde?

Das war's fürs Erste. Ich überflog noch einmal das eben Geschriebene. Es gab Punkte, die definitv mit hohem Zeitaufwand verbunden waren, wie zum Beispiel das Aufräumen der Wohnung, und dann gab es auch einige Punkte, wo ich vorher noch einiges an Mut sammeln würde müssen, wie zum Beispiel mich bei Emilia Goldberg zu entschuldigen. Mit dem einfachsten Punkt wollte ich beginnen. Der nächste Schritt, die nächsten Schritte würden mich in die Bürgerstraße 21 führen. Doch zuvor musste ich noch ein Telefonat tätigen.

Etwas nervös nahm ich das Klingeln in der Leitung wahr. Ich hoffte, dass er nicht abheben würde. Und so war es auch. Er war anscheinend gerade nicht erreichbar. Nach dem zweiten Klingeln legte auf. Ich las mir noch einmal die letzte WhatsApp-Nachricht durch:

"Hallo Ernsti, es tut mir leid, was geschehen ist. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen. Freundschaftliche Grüße, Otto."

Eigentlich konnte er nichts dafür. Er konnte nichts für seine sexuelle Orientierung. Und er konnte auch nichts dafür, dass ich selbst nur auf Frauen stehe. Außerdem: Was war schon passiert? Es wäre sicherlich das Einfachste, wenn wir die Sache aus dem Weg räumen würden und wieder ganz normale Freunde sein könnten.

Das Handy klingelte. Ich nahm ab.

"Hallo Otto."

"Hallo Ernsti."

Kurzes Schweigen. So genau hatte ich das Telefonat nicht durchgeskriptet. Eine einfache Frage fiel mir dann aber ein.

"Freunde?"

"Freunde!" Ottos Erleichterung war deutlich hörbar . Auch ich war erleichtert. Mit einem Schmunzeln im Gesicht legte ich auf. Zwischen zwei Frauen hätte dieses Telefonat vermutlich etwas länger gedauert. Ich zückte den Stift und machte das erste Hakerl auf meiner Liste.

Die nächste Nachricht war an meinen besten Freund gerichtet:

"Hallo Klaus. Sorry, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Seid ihr heute in Andy's Cool? Lg Ernst"

Die Antwort kam prompt:"Hallo Ernst, schön von dir zu hören. Ja, wir sind heute wieder in Andy's Cool. Wir freuen uns, wenn du wieder einmal dabei bist. Lg Klaus"

Ich ging zum Kühlschrank, entschied mich aber im letzten Augenblick dann doch für einen Keine-Sorgen-Tee. Die Wirkung des Tees stellte sich nicht zu hundert Prozent ein. Ich schaute erwartungsvoll in die nun leere Teetasse. Meine zahlreichen Sorgen waren leider nicht verschwunden. Trotzdem fühlte ich mich besser. Und eines war ja klar: In naher Zukunft würde ich mich auf geniale Weise meiner Sorgen entledigt haben.

💡 Das würdest du dir sicherlich auch manchmal wünschen, oder? Dass es so einen allmächtigen Knopf gibt, auf den man einfach nur drücken muss, und - schwups - alle Sorgen lösen sich in Luft auf. Aber seien wir ehrlich:Wenn es so einfach gehen würde, wäre es schon wieder irgendwie langweilig.

Ist es nicht schon einmal in deinem Leben vorgekommen, dass du eine Herausforderung meistern musstest – und danach warst du plötzlich stärker und gereifter auf deinem weiteren Lebensweg unterwegs. Und ist es nicht schön, wenn man auf seiner Sorgenliste ein Hakerl machen kann?

Kapitel 37 | Heiliges Zeremoniell

"Schön, dass du wieder einmal da bist, Ernst! Prost!"

Wenn doch alles nur so einfach wäre. Meine verlässlichen Saufkumpanen und ich saßen wieder vereint in unserem geliebten und ach so vertrauten Andy's Cool. Im gleichen Rhythmus tranken und bestellten wir Bier. Dabei lobten wir uns gegenseitig, was wir doch für unkomplizierte Zeitgenossen waren. Und wir waren uns auch wie immer einig darüber, dass Frauen die weitaus komplizierteren Geschöpfe sind. Wir lachten über dieselben alten Witze und stießen auf den Weltfrieden an. Es war so wie immer. So als wäre ich in den letzten Wochen nie weg gewesen.

Plötzlich störte Richard unser heiliges Zeremoniell. Das war so nicht vereinbart. Das hatten wir so nicht ausgemacht. Warum hält sich Richard nicht an das Drehbuch unserer Freundschaft? Es könnte so einfach sein: Blöde Witze reißen und sich dabei betrinken. Ist das wirklich so schwierig? Anscheinend schon.

"Wie geht's dir mit der Wohnung? Ist sie wieder halbwegs bewohnbar?"

Von Richard hatte ich das am allerwenigsten erwartet. Meine Hände begannen zu schwitzen. Krampfhaft hielt ich mich am Bierglas fest. Otto dürfte anscheinend doch von unserer Begegnung erzählt haben. Zumindest von dem aktuellen Chaos, das sich in meiner Wohnung befand. Ich wich Richards Blick aus und sagte nichts.

"Sorry, Ernst, dass ich es erzählt habe, aber wir machen uns Sorgen um dich!" Otto schaute mich unsicher an. Sein Blick flehte mich an, doch bitte nichts über unsere peinlichen Begegnung zu sagen.

"Also für mich ist sie bewohnbar. Für andere vielleicht nicht", gab ich patzig zur Antwort."Außerdem kann es euch wurscht sein, wie viele Bierflaschen in meiner Wohnung herumstehen!"

"Wenn du willst, können wir dir gerne beim Aufräumen behilflich sein!" Klaus schaltete sich versöhnlich dazwischen.

"Das schaff ich schon alleine!" Meine Stimme war dabei immer noch ungewöhnlich laut. Mein Stolz schien über meine Vernunft zu regieren.

Mario meldete sich energisch zu Wort:"Das kommt überhaupt nicht in Frage. Für was hat man denn Freunde!"

Kapitel 38 | Pest oder Cholera

Die ersten beiden Punkte konnte ich somit abhaken:"Versöhnen mit Otto" und"Besuch mit meinen Freunden in Andy's Cool". Das dritte Hakerl war bald fällig. Alle waren sie da. Klaus, Richard, Otto und Mario waren sich einig, dass sie mir beim Wohnungsputz helfen würden. Ob ich nun wollte oder nicht. Zu fünft arbeiteten wir bei guter Musik im gleichen Takt: Flaschen in die dafür vorgesehen Bierkisten, Kartons zusammenfalten und in einer großen Schachtel verstauen, diverse Kleidungsgegenstände in Wäschekörben und Essenreste und Co in mitgebrachten Müllsäcken verschwinden lassen.

"Dreh die Musik lauter! Das ist so ein cooler Song!"

Aus dem Radio dröhnte der Hit von folkshilfe"Seit a poa Tag". Wir sangen im Chor:

"Scho seit a poa Tag stell i ma die Frag: Hat des Leben nu an Sinn, so vü hackeln, glaub i spinn, ja da werd ma alle hin. Gemma auf a Hittn …"

Klaus schrie mir ins Ohr:"Gehst mit auf a Hittn?"

Ich schrie zurück:"Was?"

"Tanja und ich gehen nächsten Wochenende auf das Schobersteinhaus. Felix kommt auch mit. Er würde sich sicher freuen, wenn du mitkommst!" Er schaute mich an und wartete auf eine Antwort."Und ich mich natürlich auch!"

Das müsste ich mir noch gut überlegen. Schließlich sei ich schon länger nicht mehr auf einen Berg gegangen, und auch sonst fühlte ich mich derzeit nicht so fit , versuchte ich mich rauszureden.

"Tanja ist auch keine Sportskanone und oben auf der Hütte gibt es etwas zu essen. Und Bier haben sie auch!"

Dieses Argument war natürlich total idiotisch. Warum sollte ich mich auf einen Berg quälen, um dann dort oben ein Bier konsumieren zu können, wenn ich das hier so nah vor meiner Haustür auch tun konnte. Nein, Klaus, so kannst du mich nicht überzeugen! Einen Tag später schaffte es aber Felix. Er rief mich an und bestätigte noch einmal, dass er sich sehr freuen würde, wenn sein cooler Onkel Ernst auch mitkommen würde. Wir hatten uns schon so lange nicht mehr gesehen, und er könnte mir dann auch von Lisa erzählen. Wer denn Lisa sei, wollte ich wissen. Das würde er mir verraten, wenn ich mitgehe. Mist, jetzt war ich in der Zwickmühle: Schwitzen oder vor Neugier sterben müssen. Pest oder Cholera. Ich entschied mich für das erste Übel.

💡 Entscheidungen zu treffen fällt uns nicht immer leicht. Es gibt kein Patentrezept dafür. Manchmal entscheiden wir ganz spontan aus dem Bauch heraus und es ist gut so. In anderen Situationen gibt es aber auch größere Themen, bei denen es gut ist, wenn du dir die nötige Zeit nehmen kannst, um dann nach Abwägen der Vor- und Nachteile die hoffentlich richtige Entscheidung zu treffen.

Ist die Entscheidung getroffen, solltest du dann auch dazu stehen und alles Nötige durchziehen! Aber auch das ist nicht zu 100 Prozent gültig, denn wenn du merkst, dass du mit deiner Entscheidung auf dem Holzweg gelandet bist, dann ist es ratsam wieder umzukehren, sonst stehst du irgendwann an.

Kapitel 39 | Sympathische Blondine

Bevor ich meine Wohnung verließ, drehte ich mich noch einmal um. Alles war pikobello aufgeräumt und perfekt geputzt. In den letzten Tagen hatten die Burschen gemeinsam ganze Arbeit geleistet. So ordentlich und sauber war es hier noch nie, dachte ich mir. Das musste ich natürlich noch einmal dezent verändern, bevor ich den letzten Schritt setzen würde.

Jetzt hatte ich aber zuerst die nächsten tausend Schritte zu absolvieren. Eigentlich bin schon verrückt, dass ich mich zu dieser Schinderei überreden habe lassen. Jetzt war es aber zu spät. Klaus, Tanja und Felix warteten unten schon im Auto auf mich. Ich schlüpfte in meine drei Jahre alten, neuwertigen Turnschuhe, setzte mir meine Kappe auf mit der Aufschrift"Kein Bock" und schnappte die Wohnungsschlüssel. Da musste ich jetzt durch.

Während der Autofahrt steigerte sich meine Nervosität. Eine wirkliche Unterhaltung kam nicht zustande. Felix, der neben mir auf der Rückbank saß, hatte seine Kopfhörer auf und horchte vermutlich irgend ein HipHop-Zeugs. Klaus war sichtlich nicht so der geübte Autofahrer und musste sich dementsprechend besonders gut auf den Verkehr konzentrieren. Mit Tanja war das so eine Sache. Richtig auf einer Wellenlänge war ich nicht mit ihr. Schon alleine ihr Äußeres, ihr eher tussiges Outfit schürten bei mir Vorurteile. Ihr wasserstoffblondes Haar ließ mich auf einen geringen IQ schließen. Summa summarum war sie nicht so ganz mein Fall. Zumindest wusste ich nicht, worüber ich mit ihr reden sollte. Ich hoffte nur, dass Tanja keine unnötigen Fragen bezüglich Franziska Hummel stellen würde. Wir hatten uns seit dem Abend im Skygarden, beziehungsweise im Rox nicht mehr gesehen, und sie hatte es sicherlich auch mitbekommen, dass ich mich mit einer kessen Biene unterhalten hatte.

Die Zeit verging und es passierte: nichts. Wahrscheinlich hatte Klaus Tanja auf das Fettnäpfchen mit der Biene hingewiesen.

"Wer war denn die hübsche Dame im Rox, mit der du dich so lange unterhalten hast?" Er hatte sie doch nicht vorgewarnt. Scheiße! Zum Glück musste ich allerdings nicht antworten.

Klaus kam mir mit einer Notlüge zuvor:"Das ist die Cousine vom Ernst."

Tanja drehte sich zu mir:"Sind bei euch in der Familie alle so hübsch?"

Hatte ich schon erwähnt, dass mir Tanja immer schon sehr sympathisch war?

💡 Wahrscheinlich haben wir alle unsere Vorurteile. Es fällt uns leichter, wenn wir Unbekanntes in Schubladen stecken können. Hast du auch schon einmal erlebt, dass sich ein Vorurteil als gänzlich falsch herausstellte? Aufgrund falscher Annahmen reagieren wir oft unberechtigterweise abweisend. 

Falsche Hautfarbe, falsche Religion, falsches Elternhaus, falsches Wohnviertel … und schon steckt jemand in einer Schublade fest, aus der wir ihn nicht herauslassen. Vielleicht möchtest du deine nächste Bekanntschaft unvoreingenommen kennenlernen. Das gibt deinem Gegenüber auch die Chance, sich so zu zeigen, wie es wirklich ist. Lass dich überraschen!

Kapitel 40 | Wer ist Lisa?

Mit letzter Kraft und völlig außer Atem hatten wir unser Ziel erklommen – das Schobersteinhaus. Wobei wir in diesem Zusammenhang nicht ganz zutreffend ist. Tanja, Klaus und Felix unterhielten sich immer noch prächtigst. Ich war der Kraft- und Atemlose. Doch meine Beine trugen mich noch zur rettenden Sitzbank. Stöhnend ließ ich mich fallen. Mit höchster Willenskraft und letztem Sauerstoff öffnete ich den Mund.

"Ein Bier!" Das Wort Bitte schaffte ich nicht mehr. Die Kellnerin nahm die Bestellung aber trotzdem verständnisvoll entgegen.

"Wir gehen dann noch zum Gipfel, der ist gleich ums Eck!"

Dieses todesmutige Vorhaben war für mich ausgeschlossen, auch Felix entschied sich für die vernünftigere Variante:"Ich bleibe bei Ernst!"

So saßen wir nun da. Felix und ich. Der nicht mehr ganz so kalte Frühlingswind blies uns durchs Haar und an der Hauswand, an der sich die Sonne anlehnte, war es durchaus angenehm warm. Das Bier verhalf mir wieder zu Kräften und so konnte ich nun endlich meine Frage stellen.

"Wie ist das nun mit Lisa?"

Er zückte sein Handy und wischte einige Male hin und her.

"Das ist sie!" Er hielt mir das Handy entgegen.

"Sympathische Ausstrahlung!"

Mit hochrotem Kopf nickte er bestätigend. Dann begann er zu erzählen. Dass sie eigentlich schon acht Jahre zusammen in dieselbe Klasse gingen. Und dass sie sich immer schon gut verstanden hätten, aber eben nur freundschaftlich. Dass er aber seit dem letzten Skikurs total in sie verknallt sei – da hatte es auf einmal Zoom gemacht. Sie seien halt öfters gemeinsam mit dem Lift gefahren, und hatten sich so richtig gut unterhalten. Übrigens würde sie auch nach Graz gehen, um Psychologie zu studieren.

"Und ist sie in dich auch verknallt?"

Das beantwortete Felix mit einem kryptischen Lächeln. Ein Gentleman der schweigen und genießen konnte. In meiner Fantasie malte ich mir schon die romantische Fortsetzung aus. Ich freute mich für ihn. Gleichzeitig wurde mir meine eigene triste Situation wieder bewusst. Gedankenfetzen an Franziska und den damit verbunden Liebesschmerz durchzuckten mich. Schnell nahm ich noch einen großen Schluck. Irgendwie schmeckte das Bier hier oben noch besser als in Andy's Cool.

Kapitel 41 | Perfektes Chaos

Zehn Minuten nach acht. Ich blickte noch einmal zu meinem Wecker. So ganz glauben konnte ich es nicht. Am Tag zuvor war ich weit vor Mitternacht ins Bett gegangen und sofort ins Traumland eingetaucht. Nicht komatös wie ich es sonst schon öfters gemacht hatte, sondern friedlich wie ein Baby. Wobei - dieses oft verwendete Baby-Bild ist auch irgendwie irreführend. Ich schlief nämlich deutlich besser als ein Baby, denn im Gegenzatz zu einem Neugeborenen habe ich wunderbar durchgeschlafen. Ein gänzlich neues Gefühl. Wenn ich normalerweise um diese unchristliche Zeit aufstehen musste, waren mindestens drei Wecker von Nöten.

Bei einem Guten-Morgen-Tee und einem wohlduftenden Butter-Marmelade-Croissant blickte ich auf meine aktuelle Liste."Wohnung unverdächtig zurücklassen!" Dieser Punkt war natürlich jetzt viel einfacher umzusetzen als noch vor einigen Tagen. Schließlich musste ich nur noch für die perfekte, dezente Unordnung sorgen. Jeder sollte denken, dass hier Ernst Schwarzmüller gewohnt hat. Ein durchaus normaler, aber doch etwas chaotischer Künstler.

"Ich hätte unbedingt Vorher-Fotos machen sollen!" schimpfte ich mit mir selber.

Ganz so einfach war es dann aber doch nicht. Ich begann mit den Bierflaschen. Sollte ich fünf oder acht stehen lassen, oder doch nur drei? Wo war der geeignete Platz dafür? Neben der Couch auf jeden Fall, aber wohin mit dem Rest? Mit Socken, Zeitungsbroschüren und leeren Chipstüten ging es mir ähnlich. Einiges musste dann also doch noch aufgeschoben werden.

Ich versuchte es mit dem nächsten Punkt auf meiner Liste und klappte meinen Laptop auf. Alles Gute und viel Durchhaltevermögen, wünschte ich mir selbst und öffnete die Datei"Buchhaltung 2022". Dazu trank ich einen Gute-Gedanken-Tee. Diese guten Gedanken würde ich definitiv benötigen. Langsam begann ich die jeweiligen Zahlen in die richtigen Zeilen und Spalten der Exceldatei hinein zu tippen.

Vielleicht war es der Gute-Gedanken-Tee, vielleicht war es meine saubere Wohnung die mir auf zauberhafte Weise Energie zu verliehen schien. Vielleicht war es der gestrige Ausflug auf das Schobersteinhaus. Vielleicht war es auch eine Kombination all dieser Faktoren. Jedenfalls konnte ich das Thema Buchhaltung noch vor Sonnenuntergang abschließen. Ein großes Hakerl auf meiner Liste.

💡Tut es dir auch gut, wenn du eine lästige Sache endlich erledigt hast. Vielleicht gelingt dir der Trick, um deinen Schweinehund in den Ruhezustand zu versetzen: Versetze dich in Gedanken in die Situation, in der du die Sache bereits abhakst.

Dieses schöne Gefühl liefert dir vielleicht die nötige Motivation, um noch heute diese lästige Sache anzugehen. Und nicht erst morgen oder übermorgen.

Kapitel 42 | Mein Erbe

Da ich gerade das Thema Finanzen im Kopf hatte, fiel mir ein, dass ich meine Sorgenliste noch um einen Punkt erweitern musste: mein Erbe. Was sollte mit meinen Sparbüchern geschehen? Wer sollte meine noch unverkauften Kunstwerke bekommen? Wer sollte was und vor allem wie viel erben?

Natürlich fiel mir als erstes meine Mutter ein. Die lebte aber in ihrer Eigentumswohnung wunderbar. Wunderbar bescheiden und wunderbar zufrieden. Da war ich mir sicher. Sie hatte auch genügend Geld auf der Seite, um sich mehr Luxus gönnen zu können. Bedeuten würde es aber nichts, hat sie schon öfters gemeint und mir ohne jeglichen Anlass ein paar Hunderter mit den Worten"Gönn dir was Schönes!" zugesteckt.

Der Mensch, der aus meiner Sicht am meisten von meinem Erbe verdient hatte, weil am meisten lieb und hilfsbereit und fürsorglich und sowieso engelhaft, war gleichzeitig der Mensch, der es am wenigstens benötigen würde: Emilia Goldberg. Ihr konnte ich aber wahrscheinlich mit meinen noch unverkauften Kunstwerken eine Freude machen.

Klaus, als mein bester Freund, hätte sich auch einen Anteil an meinem Erbe verdient. Er war aber ungefähr genauso bescheiden wie meine Mutter und ungefähr genauso reich wie Emilia Goldberg. Wenn man ihn so sieht, käme man nie auf die Idee, dass Klaus mittlerweile ein Vermögen verdient haben muss. Wie reich er tatsächlich ist, weiß ich nicht genau, weil wir eigentlich nie darüber sprechen. Ich weiß nur, dass er ein Konzept für Gitarre-Liedbegleitung entwickelt hat, das in den letzten Jahren viral gegangen ist. Hunderte Gitarrenlehrer unterrichten in Österreich danach, weitere Tausend in ganz Europa. Er selbst gibt noch vereinzelt Unterricht, allerdings nicht aus finanziellen Gründen, sondern nur weil es ihm Spaß macht.

Wenn du Interesse daran hast, schau doch auf Klaus' Homepage vorbei: www. lebensfreude-musik. at

Dann blieben so gesehen nur noch Richard, Otto und Mario übrig. Mein erster Gedanke war, dass ich ihnen vielleicht so etwas wie eine Dauerkarte in Andy's Cool finanzieren könnte. Darüber würden sie sich sicher freuen. Letztens hatte aber Richard einmal erwähnt, dass er alkoholmäßig etwas zurückschrauben müsse – so zumindest der Rat von seinem Hausarzt. Auch Otto und Mario meinten, dass es nicht schaden würde, vielleicht etwas weniger zu trinken. Dann doch eher ein Gutschein von Samhaber Obst?

Somit waren es neben den Punkten"Wohnung unverdächtig zurücklassen!" und"Erbe aufteilen" noch drei weitere, die auf meiner Liste standen:"Mutter zurückschreiben","Bei Emilia Goldberg entschuldigen" und"Wie möchte ich mir das Leben nehmen?" Das musste aber heute nicht mehr sein. Ich öffnete mir ein letztes Bier. Das erste an diesem Tag.

Kapitel 43 | Wiener Schnitzel mit Pommes

Der Laptop war geöffnet und funktionstüchtig. Der Akku aufgeladen. Alleine meine Finger wollten nicht anfangen zu schreiben. Wie sollte ich beginnen? Liebe Mutter oder Hallo Mama? Entschuldige, dass … oder Ich möchte mich entschuldigen? Oder doch zu Beginn einmal fragen, wie es ihr geht? Das Handy klingelte. Das Display zeigte mit mir den Namen meines besten Freundes an.

"Hallo Klaus, was verschafft mir die Ehre?"

"Hallo Ernst, Tanja ist nächstes Wochenende mit ihren Mädels auf Thermenurlaub. Wie schaut's da bei dir aus?"

"Ich schau schnell in meinen Kalender!" Natürlich stand da nichts drinnen."Du hast Glück. Sonntag ist noch frei!" Vielleicht habe ich bis dahin meine Sorgenliste schon fertig abgehakt, dachte ich noch.

"Cool. Möchtest du mit mir wieder einmal auf einen Berg gehen? Vielleicht auf den Großen Priel mit Übernachtung auf der Hütte?"

Unvorstellbar. Für diesen Gipfel würde ich wahrscheinlich eine Sauerstoffmaske benötigen. Unvorbereitet machte ich einen Gegenvorschlag. Mein Mund öffnete sich, ohne dass ich mir vorher die Konsequenzen bewusst gemacht hatte.

"Und was ist, wenn wir noch einmal auf das Schobersteinhaus gehen? Da schmeckt das Bier so gut!"

Hab' ich das wirklich laut gesagt? Ich, der Leute bewundert, die zu Fuß auf den Pöstlingberg gehen? Was war bloß in mich gefahren? Doch einmal ausgesprochen, wollte ich meine Aussage nicht mehr revidieren. Das wäre gleichbedeutend damit gewesen, einen Fehler einzugestehen. Da hielt ich es schon lieber mit dem kryptischen Zitat: Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Diese Suppe hatte ich mir nun selbst eingebrockt, jetzt musste ich sie auf dem Schobersteinhaus wieder auslöffeln.

"Okay, abgemacht. Ich hol dich dann am Sonntag so um zehn Uhr ab. Passt das?"

"Okidoki", sagte ich zähneknirschend."Dann bis Sonntag!"

Das Mail an meine Mutter hatte sich in der Zwischenzeit leider nicht von alleine geschrieben. Ich versuchte es per SMS.

"Hallo Mama, hast du heute oder morgen einmal Zeit, dass wir auf einen Kaffee oder Tee gehen?"

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

"Hallo Ernst, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue von dir zu lesen. Wie geht es dir? Gerne können wir uns heute oder morgen treffen. Wenn du willst, kannst du gerne zum Mittagessen kommen! Liebevolle Grüße, deine Mutter!"

Ich blickte auf meine Armbanduhr.

"Passt dir heute um 13. 00?"

"Passt perfekt! Es gibt Wiener Schnitzel mit Pommes. Ich freue mich auf dich!"

Das war mein Lieblingsgericht. Das wusste sie.

Schnell hüpfte ich unter die Dusche. Rasierte mich nach längerer Zeit wieder einmal und kämpfte mich mit einem Kamm durch mein Haar. Ich entschied mich für den aschgrauen Sweater und für die graublauen Jeans. Wenn mein Spiegel reden könnte, hätte ich ihn gefragt, wer denn nun der schönste Mann in diesem Lande sei und der Spiegel hätte vielleicht diplomatisch geantwortet, dass es durchaus andere Männer Mitte Vierzig gibt, die nicht so jung aussehen.

Kapitel 44 | Wie im Himmel

Mit meiner Mutter ist das so eine Sache. Ich mag sie – sie ist schließlich meine Mutter. Aber mit Klaus und Emilia kann ich definitiv besser reden. Bei ihnen komme ich auch zu Wort. Bei meiner Mutter darf ich zwar meistens das Gespräch beginnen. Nach wenigen Sätzen will sie sich dann auch einbringen. So, oder so ähnlich startet sie dann meistens:"Das kenne ich auch. Neulich habe ich mit meiner Nachbarin ein ähnliches Problem besprochen." Dies ist dann der perfekte Aufhänger für einen minutenlangen Monolog, in dem sie über dies und jenes berichtet. Sie erwähnt dann dabei jedes noch so kleine Detail und verliert sich nicht selten in ihren Geschichten. Am Telefon ist es ähnlich. Auch wenn ich sie anrufe und ich ihr eigentlich etwas mitteilen möchte, komme ich am Anfang gar nicht zu Wort. Nachdem sie abgehoben hat, begrüßt sie mich freundlich und ohne zu atmen fährt sie fort:"Schön, dass du anrufst, Ernst! Ich wollte dir ohnehin letztens schon erzählen, dass …" Da lege ich das Handy meistens einfach für einige Minuten zur Seite und gehe duschen. Ich klinke mich dann zu den letzten Sätzen wieder ein. Diese lauten in der Regel ungefähr so:"Sorry, Ernst. Jetzt habe ich total die Zeit übersehen. Ich muss ja noch den Wäschetrockner einschalten. Tschüss, war schön mit dir zu plaudern!" Anna-Marie zum Beispiel ist dieser Kommunikationsstil egal. Sie kann meiner Mutter stundenlang zuhören. Das bewundere ich an ihr.

"Hallo Ernst, gut schaust du aus! Hast du abgenommen?" So freundlich hatte mich meine Mutter noch nie begrüßt. Ich gab ihr die Hand.

"Hallo Mama, danke für die Einladung!" Mit der anderen Hand überreichte ich ihr die mitgebrachte DVD.

"Kennst du den Film Wie im Himmel?"

"Nein."

"Magst du den Film mit mir heute anschauen?"

"Gerne." Das fing ja schon einmal gut an.

Während ich das Schnitzel und die Pommes genüsslich verzehrte, erzählte mir meine Mutter, dass sie sich wieder einmal mit Anna-Marie getroffen hatte. Es sei wieder wunderbar gewesen und sie hätten sich gut unterhalten. Anna-Marie sei nun endgültig von Gregor geschieden. Das Auto und den Wellensittich würde Gregor bekommen und Anna-Marie dürfe dafür im Haus bleiben.

"Und Valentina?" wollte ich wissen.

"Valentina bleibt natürlich bei Anna-Marie. Gregor hat ja auch gar keine Zeit. Der ist doch nur am Arbeiten und denkt nur an seine Karriere!"

Valentina, die Tochter von Anna-Marie, ist so etwas wie meine Nichte. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, und das ist mindestens einmal im Jahr zum Geburtstag meiner Mutter, spielen und blödeln wir zwei den ganzen Nachmittag. Währenddessen können die beiden Damen lange und ungestört miteinander reden. Eine wunderbare Win-win-win-win-Situation.

Der restliche Nachmittag war wunderschön. Ich legte die DVD ein und drückte auf Start. Ich nahm auf der Couch Platz und meine Mutter setzte sich in Großvaters Schaukelstuhl. Nachdem ich diesen Film schon öfters gesehen hatte, genoss ich es, minutenlang einfach nur meine Mutter anzusehen, wie sie sich den Film ansah. Mit gebannten Augen verfolgte sie die Handlung und sagte über zwei Stunden lang kein einziges Wort. Wir fühlten uns beide. . . wie im Himmel.

Zum Abschied überrumpelte ich sie dann und nahm sie einfach in den Arm. Wie lange war das her, dass wir uns schon nicht mehr umarmt hatten?"Danke für das gute Schnitzerl!"

Sie würde das doch gerne machen, dass sie sich um mich kümmert, antwortete sie. Bei dem Wort kümmern musste ich an Emilia Goldberg denken. Um diese Frau, um dieses Problem musste ich mich als nächstes kümmern.

Kapitel 45 | Göttliche Fügung

Noch am selben Abend startete ich mit meinen Überlegungen, wie ich mich bei Emilia Goldberg entschuldigen konnte. Mir war klar, dass ich mir für diesen so besonderen Menschen, für diesen Engel eine bestenfalls himmlische Idee einfallen lassen musste. Mein schlechtes Gewissen wollte mich schier erdrücken bei dem Gedanken, wie lange ich Emilia Goldberg vor meiner Tür vergeblich klingeln lassen hatte, wie viele Anrufe und Nachrichten unbeantwortet geblieben waren. Sie war und ist so ein herzensguter Mensch. Nicht nur, dass ich es ihr zu verdanken hatte, dass ich in den letzten Jahren von meiner Kunst überhaupt leben konnte. Nicht nur, dass sie mir dieses wunderbare Atelier zur Verfügung gestellt hatte. Halt! Ich zwang mich, meinen Gedankenblues zu stoppen.

Naturellement, selbstverständlich, das war die perfekte Entschuldigung. Ich würde ein Kunstwerk für sie anfertigen. Ein Kunstwerk das alle bisherigen Kunstwerke an Größe und Schönheit überbietet. Mit Farben die es vorher noch nicht gab. Linien und Kurven, die sich scheinbar erst in einer unfassbaren Unendlichkeit treffen. Ein Feuerwerk der Emotionen – un feu d'artifice d'émotions.

Mein Puls und meine Schritte wurden immer schneller. Getrieben von einer unbeschreiblichen Energie entstanden schon die ersten Bilder in meinem Kopf. Meine rechte Hand begann voller Vorfreude, diese Bilder in die Luft zu zeichnen. War das ich, oder war das eine unbeschreibliche, unfassbar göttliche Energie, die mich da antrieb?

Angekommen im Atelier versuchte ich mich etwas zu entspannen. Einmal tief durchzuatmen erlaubte ich mir. Doch dann übernahm jemand anders das Kommando. Es war, als sei ich nur das Werkzeug. Eine innere unbeschreibliche Kraft bediente mich. Ohne ein einziges Mal bewusst nachdenken zu müssen, mischten sich die Farben von alleine. Der Pinsel in meiner Hand schien zu schweben. Mein Kopf war leer, und gleichzeitig waren da tausende Bilderfetzen von noch nie dagewesener Schönheit, Kraft und Anmut. Unreale Motive und mehrdimensionale Geschöpfe entstanden vor meinem inneren Auge. Oder hatte ich sie bereits gemalt? Realität und Vorstellungskraft verschmolzen ineinander. Plötzlich schien ich überall gleichzeitig zu sein. Im ganzen Atelier verteilt eilte ich umher. Mir kam es vor, als würde ich von oben auf mich herabsehen und mir selbst bei diesem Akt der Kreativitätsexplosion zusehen. Die Farben schienen zu leuchten und wurden immer heller und heller. Bis alles um mich ein einziges helles, reines Licht war. Eine fremde und gleichzeitig wunderbar vertraute Stimme tauchte aus dem Nichts auf und sagte:

"Es ist gut so!"

Dann wurde es still.

Ich konnte nicht sagen, wie lange ich in diesem Zustand verharrte. Ein Zustand von unendlichem Frieden und göttlicher Liebe. Eine sanfte, wärmende Hand schien mich zu streicheln und eine engelhafte Stimme sprach zu mir:

"Ist alles gut?"

Langsam öffnete ich meine Augen, um sie sofort wieder zu schließen. Was war das? Was hatte ich da soeben gesehen? Das gesamte Atelier war voller Farbe. Sämtliche Wände waren Teil eines gewaltigen, einzigartigen Kunstwerks. Es gab keine einzige ebene Fläche mehr, keine einzige gerade Linie. Alles schien ineinander zu fließen. Als würden die Wände lebendig sein, versprühten sie Wut, Friede, Angst, Hass, Scham, Glück, Neid, Hoffnung, Trauer, Freude. Vom schwärzesten Schwarz bis zum reinsten Weiß waren schier Millionen Farbkombinationen gleichzeitig vereint zu einer einzigen perfekten Komposition.

Langsam öffnete ich noch einmal die Augen. Nun sah ich, wer so behütend an meiner Seite war. Mein Kopf in ihrem Schoß lag ich auf der Couch. War ich nackt? Ich griff mit meiner Hand unter die Decke und bestätigte meine Vermutung. Was hatte das alles zu bedeuten?

"Alles wird gut!" Emilia strich mir durchs Haar und sah mir in die Augen mit einer Güte, die unbeschreiblich war. Unbeschreiblich schön. Diesen Augenblick wollte ich für immer bewahren. Dieser kostbare Moment war ein Bote der Ewigkeit. Wortlos strich die Zeit an uns vorüber.

Mit leiser Stimme, um nur ja nicht diesen zerbrechlichen Augenblick zu zerstören, erklärte sie mir, dass ich ihr ein SMS geschrieben hatte. Sie las mir die kryptische Nachricht vor.

"Es ist gut so!"

Verwirrt, und gleichzeitig voll innerer Klarheit war sie zu mir aufgebrochen. Voll Hoffnung und voll Vorfreude, ihren geliebten Ernst wieder zu sehen. Es war eine innere, ihr sehr vertraute Stimme gewesen, die ihr verraten hätte, wo sie mich finden würde. Im Atelier gelandet, hätte sie mich dann in einem bewusstlosen und gleichzeitig so friedlichen Zustand vorgefunden. Splitternackt lag ich am Fußboden, bedeckt mit tausenden Farben.

Ich fragte mich, wie ich nun gewaschen auf der Couch landen konnte:"Wie hast du …?" Sie unterbrach mich, indem sie mir einen Finger auf meine Lippen legte.

"Ruh dich noch etwas aus!"

"Danke. Danke, dass du da bist. Danke, für all das!"

Waren das ihre Worte? Oder kamen diese Worte aus meinem Mund? Meine Augen fielen wieder zu. Was war da letzte Nacht geschehen? Ist Emilia Goldberg wirklich so etwas wie ein Engel? Wer oder was hat mich geleitet?

Kapitel 46 | Einmal noch herzhaft Lachen

Der Linzer Dom beantwortete meine wortlos gestellte Frage nach der Uhrzeit mit elfmaligem Läuten. Verschlafen blinzelte ich dem neuen Tag entgegen. Ich betrachtete noch einmal voll Erstaunen das Atelier. An diesen Anblick werde ich mich erst noch gewöhnen müssen, dachte ich mir.

"Gut geschlafen?" Emilia war noch da."Du hast auf jeden Fall über 24 Stunden wie ein Baby geschlafen! Du hast sicher Hunger, oder? Frühstück ist fertig!"

Draußen schien die Sonne. Frühlingsduft drang durchs offene Fenster. Ein Schmetterling nahm auf der Fensterbank Platz und beobachtete uns beim Verzehren eines Croissants. Der Kaffee schien heute besonders gut zu schmecken. Emilia begann mit ihrer Erklärung noch einmal von vorne:

"Das war für mich schon ein kleiner Schock als ich gestern hier im Atelier angekommen bin. Du bist splitternackt und voller Farbe auf dem Fußboden gelegen. Gleichzeitig war in mir diese unerklärliche Gewissheit, dass es dir gut geht. Ich habe dann sofort deine Mutter angerufen, die kam auch gleich, um mir zu helfen. Gemeinsam haben wir dich unter die Dusche geschleppt und von oben bis unten abgewaschen. Du hast anscheinend nichts davon mitbekommen, oder?"

Ich schüttelte den Kopf. Dieses ganze Ereignis war mir ein einziges Rätsel.

"Wir haben dann auch versucht, dir wieder etwas anzuziehen, haben dann aber erkannt, dass wir unsere letzten Kraftreserven dafür benötigen würden, dich auf die Couch zu heben. Du kannst mir glauben, dass wir danach beide ziemlich k. o. waren. Deine Mutter ist anschließend wieder nach Hause gefahren, nachdem ich ihr ungefähr tausend Mal bestätigen musste, dass ich mich weiter um dich kümmern werde. Ich glaube, sie schläft jetzt noch. Falls du so etwas noch einmal machen solltest, würden wir dich bitten, dass du vorher ein paar Kilo abnimmst!" Ich musste lachen. Sie auch. Wir konnten uns gar nicht mehr einkriegen vor lauter Lachen. Tat das gut! Wann habe ich das letzte Mal so richtig herzhaft lachen können?

💡 Wann hast du das letzte Mal so richtig gelacht? Es tut uns doch allen gut. Diese Erfahrung haben wir hoffentlich alle schon einmal machen dürfen, was für ein schönes Gefühl es ist, herzhaft zu lachen. Wenn unser Bauch zu schmerzen beginnt, nehmen wir das gerne in Kauf, weil wir in diesem Moment einfach nur glücklich sind.

Es ist nicht möglich, zu lachen und gleichzeitig an irgendwelche Probleme zu denken. Probier' es aus! Vielleicht nicht unbedingt am Linzer Hauptbahnhof, aber in den eigenen vier Wänden kann dir doch nichts passieren bei diesem Experiment, oder?

Kapitel 47 | Adieu du schöne Welt

Alleine am Weg zum Schobersteinhaus begleiteten mich in Gedanken meine Liebsten. Viele herzerwärmende Worte und Umarmungen hatte ich in den letzten Tagen und Wochen noch sammeln können. Besonders freute es mich, dass das Schicksal in meinem Drehbuch noch ein Kapitel mit meiner geliebten Anna-Marie geschrieben hatte - und zwar hier und jetzt, wenige Meter vor dem Schobersteinhaus.

Am Anfang dieser wieder einmal so zufälligen Begegnung hielt sich meine Freude in Grenzen. Mein erster Gedanke war:"Scheiße, sie hat mich gesehen!" Ich wollte nicht, dass mich Anna-Marie hier sah. Nicht hier auf am Schoberstein. Und nicht an diesem entscheidenden Tag, an dem ich meinen allerletzten Schritt setzen werde. Doch sie kam auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen.

"Hallo Ernst, was machst du denn hier?"

"Bier trinken!" Das stimmte ja auch so gesehen."Schön, dich zu sehen, Anna-Marie!" Das stimmte tatsächlich. Nachdem sich mein erster Schock gelegt hatte, freute ich mich ehrlich über dieses unerwartete Treffen. Sie setzte sich zu mir, und dann erzählte sie mir zum ersten Mal offen und ehrlich von den letzten Jahren. Dass sie, obwohl sie schon lange mit Gregor zusammen war, immer noch an mich denken musste. Irgendwann sei sie dann aber zu dem Punkt gekommen, das Thema Ernst zu beenden. Sie hatte Gregor schon auch sehr gern gehabt, aber es wäre eher so eine Vernunftgeschichte gewesen. Doch sie sei froh, denn sonst würde es Valentina nicht geben.

"Valentina redet so oft von dir! Sie freut sich jedes Mal, wenn sie dich wieder sehen darf."

Eine Gänsehaut lief über meinen Rücken. Mir wurde ganz warm ums Herz. Obwohl wir uns nur wenige Male im Jahr sahen, hatten Valentina und ich eine unglaublich schöne Verbindung. Ich ertappte mich öfters bei dem Gedanken, dass ich auch gerne so eine wunderbare Tochter hätte. Leider – und da bekam ich erneut Gänsehaut – würde ich ihr in diesem Leben nicht mehr begegnen. Beim Abschied streckte mir Anna-Marie die Hand entgegen. Diese Geste ignorierte ich.

"Darf ich dich drücken?" Wir umarmten uns und unsere beiden Herzen waren dabei so nahe wie schon lange nicht mehr.

"Ich werde dich vermissen!" Anna-Marie sah mich verwirrt an. Auch ich war überrascht über meine Worte. Schon sehr bald, so dachte ich mir, wirst du diese Worte verstehen.

Nun war es Zeit. Der letzte Punkt auf meiner Liste. Unauffällig, wie ein Unfall sollte es aussehen. Ich setzte das letzte Hakerl auf meiner Liste und ging meine allerletzten Schritte hin zu der Klippe, hin Richtung Ende. Ich hielt noch einmal inne. Ein Blick in den tiefen Abgrund bestätigte mein Vorhaben. Der nächste Schritt würde mich zum Ziel führen. Dann würden sich alle meine Probleme mit einem Schlag in Luft auflösen.

Trotzdem wollte ich noch nicht gleich springen. Diesen Augenblick, der so endlich war, wollte ich auskosten. Deshalb ging ich noch einmal gedanklich meine Sorgenliste durch.

Meine Wohnung habe ich in perfekter Unordnung hinterlassen. Ich habe mich letztendlich für vier Bierflaschen entschieden: zwei bei der Couch und zwei beim Bett. Ein T-Shirt mit der Aufschrift"Komm, süßer Tod" habe ich gekonnt elegant auf den Fußboden geschmissen und eine leere Popcorntüte ist auf dem Wohnzimmertisch zurückgeblieben. Dass nun auch die Buchhaltung abgeschlossen war, bereitete mir ein Schmunzeln. Wie lange habe ich das hinausgeschoben? Im Endeffekt war es in wenigen Stunden erledigt gewesen.

Das Genialste war die Entscheidung für meine Todesart. Eigentlich hätte ich mich dafür bei Klaus noch bedanken müssen, denn er hat mich auf diese Idee gebracht. Er hat mich zu diesem schönen Gipfel mit der herrlichen Aussicht geführt. Die Aussicht auf den perfekten letzten Schritt. Das war die Lösung. Es hatte mich schon beim letzten Mal gejuckt, als Klaus und ich gemeinsam das herrliche Panorama genossen. Da hätte ich am liebsten schon diesen einen letzten Schritt gemacht. Doch die Vernunft riss mich damals zurück. Es sollte perfekt sein. Dazu gehörte auch, dass niemand dabei sein sollte. Was wäre das für den armen Klaus gewesen? Diese Bilder von dem in den Tod stürzenden Freund hätte er nie aus seinem Kopf löschen können. Also entschied ich mich, noch einmal alleine hierher zu kommen. Es wird wie ein Unfall aussehen und niemand anderes kommt dabei zu Schaden. Schmerzen werde ich auch keine verspüren, weil mich der Aufprall sofort ins Nirvana schicken wird.

Das mit dem Erbe. Ich stockte. Mist, dachte ich mir, ich habe kein Erbe hinterlassen. Fast im selben Moment atmete ich erleichtert aus. Das wäre ja richtig dumm von mir gewesen, wenn ich ein Erbe geschrieben hätte. Das wäre sicherlich aufgefallen, wenn ich mit Mitte Vierzig ein detailliert ausformuliertes Testament hinterlassen hätte. Ohne Testament würde eben meine Mutter alles erben. Ich vergönnte es ihr.

Also das war's dann wohl. Adieu du schöne Welt.

Kapitel 48 | Der Sommer kommt

Doch das Gehirn ist schon ein spannendes Konstrukt. Ich war mir sicher, dass alles perfekt vorbereitet war. Da stand ich nun einen entscheidenden Schritt entfernt vor dieser Klippe – vor der perfekten Lösung, und dann? Dann musste sich doch tatsächlich so eine blöde Synapse dazwischenschalten:"Sind vier Bierflaschen wirklich die richtige Anzahl? Das T-Shirt mit dem eigenartigen Aufdruck ist so auch nicht ganz ideal gewählt. Hätte es nicht doch ein Chipssackerl sein sollen?" Plötzlich war ich war mir auch nicht mehr sicher, ob ich nach Eingabe meiner Buchhaltungsdaten zum Schluss noch den Bestätigungsbutton gedruckt hatte. Ein Studentenfest mit Felix und Klaus wollte ich auch noch erleben. Vielleicht hätte ich bei dieser Gelegenheit Lisa kennengelernt. Es hätte mich schon interessiert, ob die zwei ein Paar werden. Emilia Goldberg und meine Mutter hätte ich gerne noch etwas länger umarmt. Im Andy's Cool, bei unserem letzten Treffen, waren wir leider nicht komplett. Otto hatte krankheitsbedingt absagen müssen. Einmal noch die gesamte Runde erleben – das wäre schon fein. Was das Erbe betrifft, schoss es mir plötzlich durch den Kopf, würde auch mein Vater eine Hälfte bekommen. Dem würde ich das nicht so ganz vergönnen.

So entschied ich mich mein Vorhaben auf ein anderes Mal zu verschieben. Ich sagte mir: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die Klippe würde mir nicht davonlaufen. Außerdem wollte ich noch einmal so ein herrliches Bier auf der Hütte genießen.

"Ernst?"

Die Stimme erschreckte mich. Ich drehte mich um, und dabei löste sich ein Stein unter meinen Füßen. Mein Fuß knickte ein und ich begann zu wanken. Mein Gleichgewicht und ich verloren die Kontrolle. Der losgelöste Stein prallte hunderte Meter unter mir auf einen harten Felsen. Mir drohte dasselbe Schicksal. Im Zeitraffer sah ich mein ganzes Leben an mir vorbeiziehen.

Meine Kindheit. Die Scheidung meiner Eltern. Das verpatzte Studium und die darauffolgende Trennung von Anna-Marie, der Streit mit meiner Mutter. Meine biertrinkenden Kumpels im Andy's Cool. Die Begegnung mit dem Engel Emilia Goldberg. Der Vogel-Leinwandunfall. Jakov und Neva lächelnd bei der Gartenarbeit. Die Versöhnung mit meiner Mutter. Die beiden Therapiestunden bei Franziska Hummel und das zufällige Treffen mit ihr im Rox. Der wunderbare Sex im Atelier und das grauenvolle Frühstück am nächsten Morgen. Das Pinsel- und Bierflaschenwerfen auf das Bild von Franziska …

Sie packte meine Hand und riss mich zu sich. Ich zitterte am ganzen Körper. Erst jetzt bemerkte ich, wer mir soeben das Leben gerettet hatte. Anna-Marie schaute mich verwundert an.

"Was machst du da? Willst du dich umbringen?" Wenn sie wüsste, dachte ich mir.

"Ich, ich …" Ich war noch nicht in der Lage etwas zu sagen. Mir war heiß und kalt zugleich. Ich hatte gerade dem Tod ins Auge gesehen. Mein Puls wurde wieder langsamer und mein Atem beruhigte sich. Atmen. Ich kann atmen. Natürlich konnte ich atmen. Warum auch nicht? Plötzlich wurde mir bewusst, was es für ein Geschenk ist, atmen zu können, leben zu dürfen.

Sie schaute mir tief in die Augen: "Alles klar bei dir?"

"Ich glaube, es geht schon wieder!" Meine wackeligen Beine zwangen mich zum Hinsetzen.

Ich versicherte ihr noch einige Male, dass bei mir alles in Ordnung sei. Ich müsse mich nur etwas sammeln, dann würde es schon wieder gehen. Sie müsse sich keine Sorgen um mich machen. So ging sie langsam weiter, dabei drehte sie sich noch einige Male zu mir um. Anscheinend machte sie sich doch Sorgen.

💡 Auf eine eigenartige Weise ist es bezaubernd schön, wenn wir uns Sorgen machen können. Wenn wir jemanden so ins Herz geschlossen haben, dass wir befürchten dieser Person könnte etwas zustoßen. Am liebsten würden wir diese Person dann vielleicht in einen goldenen Käfig sperren. Das ist aber nicht das wahre Leben.

Die Wahrheit ist, wir wollen fliegen und damit in Kauf nehmen, dass wir auch fallen können. Wir wollen neue Erfahrungen sammeln, auch wenn wir wissen, dass das manchmal schmerzhaft sein kann. Wir wollen lieben, und riskieren damit, dass wir verletzt werden. Das alles ist Leben.

Lange saß ich noch an dieser Klippe, die mir mehr als nur symbolisch klar machte, wie knapp Glück und Unglück, Leben und Tod beisammen sein können. Was war das für ein eigenartiges Ding. Dieses Leben. Manchmal lebt es sich ganz einfach, und dann gibt es Tage da will man nichts zu tun haben mit diesem Ding, das sich Leben nennt. Unfassbar – im wahrsten Sinn des Wortes. Und doch war ich froh dieses Leben zu haben. Wir haben nur dieses eine Leben. Dieses gilt es zu bewahren. Ich bekam Gänsehaut bei dem Gedanken, wie knapp ich davor gewesen war, dieses Geschenk zu zerstören. Fast hätte ich mir das Leben genommen.

"Ich will mir das Leben nehmen …", eine eigenartige Formulierung, dafür, dass man sein Leben beenden möchte. Das Leben nehmen? Ja, ich will mir das Leben nehmen. Das ganze Leben. Das ganze Leben mit all seinen Farben.

Das Rot eines blutenden Herzens und das Rot der feurigen Liebe. Das Blau der klirrenden Kälte und das Blau des unendlichen Himmels. Das Grün eines furchteinflößenden Drachen und das Grün eines friedlichen Waldes. Das Gelb einer sauren Zitrone und das Gelb von einem herzerwärmenden Sommer.

Sanft strich mir der warme Wind durchs Haar. Die Sonne schien mir auf den Bauch. Ein Schmetterling kam geflogen und setzte sich auf meine Schulter. Ich hatte das Gefühl, als wollte er mir etwas ins Ohr flüstern:"Der Sommer kommt!"

"Schön" dachte ich mir."Ich freue mich darauf."


Epilog

Die ersten Schneeflocken kündigten den Winter an. Wir waren unterwegs auf dem Weg zu Andy's Cool. Es war schon ein besonderer Liebesbeweis von Anna-Marie, mit meinen Saufkumpanen und mir einen Abend zu verbringen. Valentina ging zwischen uns beiden und hielt unsere Hände. Es war ein schönes Bild: meine kleine Familie.

Valentina schaute ihre Mama an:"Darf ich heute lange aufbleiben?"

"Das müssen wir Ernst fragen, schließlich hat er heute Geburtstag!"

"Von mir aus können wir die ganze Nacht durchtanzen", antwortete ich lachend.

"Danke, du bist der beste Zweitpapa, den man sich wünschen kann!" Valentina kuschelte sich an mich. Ich drückte sie sanft. So lange würden wir nicht bleiben, hatte ich Anna-Marie versprochen. Natürlich freute ich mich, dass Klaus, Richard, Mario und Otto auf meinen Geburtstag nicht vergessen hatten und wir heute in unserem Stammlokal feiern würden. Ich freute mich aber auch schon, danach zu Hause im ganz kleinen Kreise den Abend ausklingen zu lassen. Das war zumindest der Plan, aber ich sollte mich täuschen.

"Überraschung!"

Mir rutschte im ersten Moment das das Herz fast in die Hose, dann aber tanzte es vor Freude. Es tanzte im Rhythmus von Happy Birthday, das nun gesungen wurde. Laut, falsch und mit herzerfrischender Begeisterung. Alle sangen mit. Ich ließ den Blick von einem zum anderen wandern.

Da waren meine treuen Saufkumpanen Richard, Otto und Mario. Mein allerbester Freund Klaus Hand in Hand mit Tanja. Felix und Lisa waren offenbar extra aus Graz gekommen um"Onkel Ernst" hochleben zu lassen. Meine Mutter schaute mich an. Ihr Blick verriet mir, dass sie glücklich war und auch ein bisschen stolz auf mich. Sie hatte ihre neue Liebe auf dem Arm: Bruno – ein reinrassiger Chihuahua. Besonders warm wurde mir ums Herz als ich in die Augen von Emilia Goldberg sah."Alles Gute, Ernst!" flüsterte sie mir lautlos zu. Neben ihr stand Herr Vogel. Sogar Jakov und Neva sangen für mich mit.

Klaus umarmte mich."Na, du alter Haudegen. Wie geht's dir?"

"Danke", murmelte ich. Ein Kloß im Hals blockierte auf wohlige Art und Weise das Ausformulieren weiterer Gedanken. Das war aber auch nicht nötig. Die Freudentränen sprachen ohnehin Bände. Tanja und Felix umarmten mich ebenfalls.

"Und du bist also Lisa? Schön, dich kennenzulernen." Ich streckte ihr meine Hand entgegen, doch sie ignorierte diese Geste.

"Darf ich dich drücken?"

"Na, das lässt sich Onkel Ernst doch nicht zweimal sagen!" Irgendwie kam es mir vor, als würden wir uns schon ewig kennen.

Felix, Lisa und Valentina verschwanden bald ins Hinterzimmer und spielten mit Bruno.

"Magst du heute doch noch etwas länger bleiben?" Ich strich Anna-Marie sanft durchs Haar und gab ihr einen zärtlichen Kuss.

"Ja, gerne!" Sie schmunzelte."Aber nur wenn du mit mir tanzt?"

Wie konnte ich da widerstehen. Klaus hatte sogar Live-Musik organisiert. Ich konnte es nicht glauben, dass diese drei Jungs heute hier aufgeigten. Florian, der Frontman von folkshilfe, erklärte mir zu späterer Stunde, dass er bei Klaus früher öfters gratis Gitarrenunterricht bekommen hätte. Heute konnte er sich dafür endlich revanchieren. Nach einem schwungvollen Tanz mit meiner geliebten Anna-Marie bahnten sich schon die nächsten Gratulanten den Weg zu mir: Jakov, Neva und Emilia Goldberg, gefolgt von Herrn Vogel.

Mit einer höflichen Handbewegung deutete Herr Vogel an, dass er den beiden Kroaten den Vortritt überlassen wollte.

"Sretan rodendan!"

"Hvala!" Ich bedankte mich für die Glückwünsche. Mit den beiden hatte ich heute Abend am wenigsten gerechnet. Umso mehr freute es mich, dass sie da waren.

"Jetzt bin aber ich dran!" Emilia kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Lange drückten wir uns wortlos. Herr Vogel stand daneben und schaute abwechselnd etwas unsicher vom Boden zur Decke. Ein fast unhörbares Räuspern seinerseits kündigte an, dass die Kuscheldauer nun schon etwas zu lange war nach dem Ermessen der sittlichen Vorschriften.

"Alles Gute zum Geburtstag, Herr Schwarzmüller." Er versuchte zwanghaft locker zu sein, doch das wollte ihm nicht so recht gelingen. Herr Vogel und ich waren immer noch per Sie, doch das war mir herzlich egal. Er war schon ein schräger Vogel. Einer so von der alten Garde. Aber nicht unsympathisch, und Emilia schien ihn wirklich zu mögen.

"Also Herr Schwarzmüller, oder sollte ich besser sagen: Pinot Meunier?"

"Wie wär's mit Ernst?" Emilia gab ihm einen freundschaftlichen Schubs.

Zögernd meinte er, dass er mich eigentlich schon lange genug kennen würde, so dass es auch der Sitte entsprach. Und dass er als der Ältere von uns beiden das übernehmen würde sozusagen, also das mit dem Anbieten des Du-Wortes und so. Ich musste schmunzeln. Spontanität war nicht unbedingt eine Eigenschaft von Herrn Vogel.

"Also ich bin der Herr Anton!" Er gab mir dabei förmlich die Hand.

"Ernst. Angenehm!"

"Wir sollten dann bei Gelegenheit wegen der Vernissage reden…Ernst!"

"Gerne!"

Herr Vogel, also Herr Anton, hatte für mich eine Ausstellung unter meinem neuen Künstlernamen Pinot Meunier organisieren lassen. Dabei standen die Bilder von Franziska Hummel, die ich mit der neuen Pinsel-Wurf-Technik angefertigt hatte, im Mittelpunkt. Herr Anton meinte, diese Kunstwerke seien besonders kraftvoll und energiegeladen."Jetzt würde ich aber schon zu gern wissen, wir ihr euch beide kennengelernt habt", wandte sich Anna-Marie an Emilia und Anton.

"Darf ich?" Herr Anton schaute Emilia fragend an.

"Gerne, Anton!"

Nachdem er sich artig die Erlaubnis von Emilia geholt hatte, fuhr er mit leicht theatralischer Stimme fort:"Also das war so: Ich hatte schon längere Zeit ein schlechtes Gewissen, wegen des doch sehr hohen Schmerzensgeldes – damals wegen dem Leinwandunfall. Sie kennen die Geschichte?" Er schaute Anna-Marie fragend an. Sie nickte.

Er fuhr fort:"Also ich habe mir dann Folgendes überlegt: Einfach einen angemessen Geldbetrag zurücküberweisen wäre möglich. Das erschien mir aber nicht angebracht. Abgesehen davon hätte ich nicht die Chance bekommen, diese bezaubernde Dame besser kennenzulernen!" Er schaute Emilia in die Augen. Sie formte pantomimisch einen Kussmund und schickte ein Busserl sozusagen per Luftpost. Natürlich mit dem nötigen Abstand und Anstand. Herr Anton wirkte etwas irritiert, nahm aber im nächsten Moment wieder Haltung an.

"Also das war dann so: Ich habe mich Anfang des Sommers auf den Weg zur Goldbergvilla begeben. So stand ich vor der Tür mit Tulpen und einer Flasche Wein – wie es sich ziemt für einen Mann meines Alters. Meine Idee wäre gewesen, Emilia in den nächsten Wochen einmal auf einen Kaffee einzuladen. Mein Vorschlag war dann dahingehend, ob ihr denn bis dahin etwas einfallen würde, wie wir diese Sache mit dem Geld beheben sollten. Meine sehr verehrte liebe Emilia ist aber eine durchaus impulsive und spontane Persönlichkeit. So hat sie gemeint, dass ich doch diese mitgebrachten Tulpen sogleich in ihrem Garten einsetzen könnte."

Hier schaltete sich Neva lachend dazu:"Und Herr Anton hat uns dann den ganzen Sommer über beim Rasenmähen, Unkraut ausreißen und Heckenschneiden geholfen!"

"Das hätte er aber nicht tun müssen", schaltete sich Emilia ein. Dabei schaute sie ihren Anton ganz verliebt an.

"Das mache ich doch gerne für dich!" Er versuchte dabei ein ebenso schönes Luftbusserl an Emilia zu schicken. Es landete nach bester Sitte auf ihrer Wange. So eine schöne Geschichte, dachte ich mir. Auch Anna-Marie schien sie zu gefallen.

Erwischt. Jetzt habe ich dich erwischt. Soeben hatte ich Richard dabei ertappt, wie er Otto einen Klaps auf den Hintern gab. Wenn man es nicht wusste, war es wahrscheinlich eine unbedeutende Geste. Ich wusste es aber besser: Richard und Otto waren seit einigen Wochen ein Paar. Es wäre eine etwas zu große Überraschung gewesen, wenn sie heute händchenhaltend aufgetaucht wären. Doch in unserer kleinen Männerrunde hatten sie sich vorige Woche geoutet.

Otto hatte uns auch erzählt, wie es dazu gekommen war. Eines Abends hatten sie nach der Sperrstunde noch Durst gehabt, daher ließ sich Richard auf einen Absacker in Ottos Wohnung überreden. Das eine ergab das andere. Zu viele Details wollte er uns ersparen. Dabei schmunzelte er. Er war sichtlich erleichtert, dass das Geheimnis um seine sexuelle Orientierung nun keines mehr war. Richard saß die ganze Zeit daneben und sagte kein Wort. So still habe ich ihn noch nie erlebt, hatte ich mir gedacht. Auch seine Augen verrieten Erleichterung - und noch etwas anderes: Er war das erste Mal verliebt.

Mario kam auf mich zu. Er habe da nocheine Frage:

"Du, wie ist das mit der Franziska Hummel?"

"Was soll mit ihr sein?"

"Ich habe sie nämlich zufällig letzte Woche im Rox getroffen."

"Okay, und?"

"Naja, sie ist halt schon eine kesse Biene."

"Bist du mit ihr zusammen?"

"Nein, nein!" Er habe sich nur ganz gut mit ihr unterhalten. Sie habe sich nun von ihrem Mann scheiden lassen, beziehungsweise umgekehrt. Und ihre Handynummer habe sie ihm auch schon gegeben. Und er würde aber da nur etwas unternehmen, wenn er mein Okay dafür hätte. Ich blickte zu Anna-Marie. Sie schien sich gerade prächtig mit meiner Mutter zu unterhalten. Was ist das doch für eine wunderschöne Frau, dachte ich mir.

"Also meinen Segen hast du!" Und mit einem Zwinkern fügte ich hinzu:"Aber geh es langsam an, die Hummel ist eine wilde Biene!"

Kling, kling, kling. Löffel und Sektglas sorgten für Aufmerksamkeit. Richard schnappte sich das Mikrofon.

"Liebe Festgäste! Lieber Ernst!" Er schaute mich an."Ich möchte mich bei dir bedanken, Ernst, dass wir heute mit dir feiern dürfen. Ich wünsche dir und mir und uns allen, dass wir noch oft in diesem wunderbaren Lokal so wunderbare Stunden verbringen dürfen. Danke, Andy!"

Applaus. Er schaute zur Bar, wo der Wirt gerade ein Bier herunterließ – dieser lächelte dankbar zurück."Hebt eure Gläser! Ein Hoch auf Ernst! Ein Hoch auf den Weltfrieden!" Und nach einer kurzen dramaturgischen Pause:"Ein Hoch auf das Leben!"

💛 Manchmal tragen wir Gedanken in uns, die uns wie ein grauer Nebel umhüllen. Gedanken, die uns festhalten – und die wir am liebsten ganz leise verschwinden lassen würden.

Freeming lädt Dich ein, diese Gedanken auszusprechen. Ohne Bewertung. Ohne Eile. Ohne Angst, "zu viel" zu sein.

Hier darf alles Platz haben – auch das, was Du sonst nie sagst. Und hier darf Neues entstehen:

  • Gedanken, die Dich wärmen.
  • Gedanken, die Dir Kraft geben.
  • Gedanken, die Dich sanft daran erinnern, dass in Dir mehr Licht steckt, als Du vielleicht gerade sehen kannst.

Mach den Schritt. Sprich es aus. Lass los. Damit wieder Raum ist für Dich – und für das Leben, das auf Dich wartet.

Danke …

… an Michi, Ilse, Hannelore, Roswitha, Gaby, Christina, Andrea, Kathrin, Marianne für euer wohlwollendes und konstruktives Feedback.

… an meine gesamte Familie mit denen ich wertvolle Gespräche über den Inhalt von diesem Buch führen durfte.

… an Christian und Christian, denen ich die gesamte Geschichte vorgelesen habe.

… an Sophie, die das Lektorat übernommen hat. Kompetent und sehr feinfühlsam hat sie mich auf diverse Hoppalas hingewiesen. Sie ist auch die"Erfinderin" von dem Künstlernamen Pinot Meunier. Hier ihr Kommentar dazu:

Die Geschichte von Pinot Meunier

von Sophie Lenz

Die Frankophilie und auch der 1:1-übersetzte Name sind für mich nicht ganz schlüssig, da haben wir ja schon drüber gesprochen – ABER ich habe DIE Idee für den Künstlernamen, siehe unten …

Warum nicht Meunier noir? Ist korrekt übersetzt, aber hat 0 Klang, wäre niemals ein authentischer französischer Name oder französisches Wort und weckt dementsprechend einfach keinerlei Assoziationen, klingt plump und eben nach Google-Übersetzung.

ABER hier mein Vorschlag für einen richtig smarten Künstlernamen: PINOT MEUNIER. Die Übersetzung ist nicht 1:1, aber es ist eine Übertragung, die beide Wortkomponenten (schwarz/dunkel) und Müller beinhaltet. Gleichzeitig ist es ein Begriff, den es tatsächlich gibt und der deshalb bildhaft wirken kann und Assoziationen hat. Es ist eine französische Rebsorte, die wahlweise auch als"Schwarzriesling" oder"Müllerrebe" bezeichnet wird. Dadurch ist nicht nur das Wort französisch, sondern auch die dahinterliegende Sache (Wein) hat intensiven französischen Charakter.

Man kann sogar den Künstlernamen, d. h. seine künstlerische Identität (stilvoller, französischer Wein) als Kontrapunkt zu den nicht ganz so zivilisierten Biersauferin mit den Kumpels lesen.

Und wenn man Wikipedia oder andere Quellen studiert, erfährt man u. a. , dass Pinot Meunier gegen viele Einflüsse widerstandsfähig ist (analog zu der Resilienz, die Ernst im Laufe der Geschichte aufbaut) und eher spät reift (am Anfang ist der Ü40er noch recht pubertär unterwegs, aber er mausert sich sehr gut. . . ) Ach, lies einfach selbst, was sich alles mit dem Begriff verbinden lässt, ich finde es wunderbar und würde dafür plädieren, den Linzer Maler als Pinot Meunier in die Kunstgeschichte eingehen zu lassen. 😀😀😀