Kapitel 1 | Kryptische Zeilen
Das Streichmesser in seiner rechten Hand haltend, greift er mit der linken zur Brombeermarmelade. Zwei gut gehäufte Teelöffel verstreicht er gleichmäßig auf dem schon vorbereiteten Butterbrot – exakt mittig, versteht sich. Denn Chaos auf dem Brot ist Chaos im Leben.
Bevor er davon abbeißt, hebt er sein Glas. Nein, heute nicht der Kaffee. Heute entscheidet er sich spontan für Wasser. Was wird dieser Tag wohl noch so bereithalten? Spannende Überraschungen im Dschungel des ritualisierten Alltags? Wahrscheinlich nichts.
Zeitung überfliegen. Schuhe anziehen. Jacke drüber. Hausschuhe dabei sorgfältig parallel nebeneinander parken – Ordnung muss sein. Ein kurzer Blick in den Spiegel, Krawatte zurechtrücken, Seitenscheitel in Position bringen. Dann ein flüchtiger, emotionsloser Abschiedskuss, wie von einem Beamten im Standesamt der Gewohnheit.
Alles vorhersehbar. Alles Routine.
Langsam ließ sie die Tür ins Schloss fallen. Dabei schaute sie ihm noch hoffnungsvoll nach. Einmal, so wünschte sie sich, würde er sich umdrehen, ihr einen Blick schenken – einen Blick voller Sehnsucht, der Hollywood würdig wäre. Doch sie konnte sich nicht erinnern, dass er so etwas jemals getan hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich die Szene nur aus diversen Rosamunde-Pilcher-Romanen zusammengepinselt.
Seufzend ging sie zurück in die Küche und schlug ihr Buch Ritter der ewigen Sehnsucht auf. Routinemäßig öffnete sie es auf der letzten, schon ziemlich ramponierten Seite. Mit halbgeschlossenen Augen las sie die Zeilen, die sie mittlerweile fast auswendig kannte …
Sanft strich er ihr noch einmal durchs Haar. Dabei schaute er ihr tief in die Augen. Wortlos versprach er, sie für immer zu lieben. Und auch wenn er jetzt fortreiten müsse, so würde sie in seinem Herzen bei ihm sein. Sie nahm seine Hand und küsste jeden Finger, um sich bei jedem einzelnen zu verabschieden. Ein letzter Blick noch in seine so wunderschönen, dunkelblauen Augen. Eine Träne bahnte sich ihren Weg über ihre Wange und verriet ihm, dass sie es schon ahnte: Sie würden sich nie wieder sehen.
Mit dem Finger strich sie noch einmal über die Zeilen, als wollte sie dem Ritter persönlich Lebewohl sagen. Dann stellte sie das Buch zurück ins Regal – zurück in die Realität, zurück zu den Sisyphusarbeiten des Alltags.
Die Ehe? Ein Schatten.
Der Sohn? Selten gesehen.
Die Freundinnen? Verschwunden in Terminen, Streitereien oder schlicht in der Vergessenheit.
Wie ferngesteuert ging sie zum Briefkasten. Erwartungslos. Aber dann: ein Brief. Ein anonymer Brief. Schon wieder.
Langsam legte sie sich aufs Sofa. Diesen Moment wollte sie zelebrieren, als wäre das Kuvert eine Schachtel feinster Pralinen. Sie strich mit der Fingerspitze jede Kante entlang. Vorsichtig öffnete sie den Brief, so als könnte er explodieren.
Sie faltete das schöne Papier auseinander. Ein eigenartiger Text.
"Ich halte nun den Brief in Händen und überlege mir, was das zu bedeuten hat … und wo befindet sich der Brief von letzter Woche?"
Sie stockte. Las erneut. Dann noch einmal. Das Absurde: Die Worte waren ihre eigenen Gedanken.
Sie stürzte zum Altpapiercontainer, wühlte darin herum, bis sie den ersten Brief wiederfand. Sie brauchte ihn eigentlich nicht mehr zu lesen – die Worte hatten sich längst eingebrannt. Trotzdem schlug sie ihn auf, und ihre Augen huschten über die Zeilen.
"Kannst du mir verzeihen?"
Kapitel 2 | Mögliche Verdächtige
Letzte Woche hatte sie noch gedacht, jemand wolle ihr bloß einen schrägen Scherz spielen. Aber mit diesem zweiten Brief? Da roch es plötzlich nach mehr. Nach Tiefe. Nach einer Botschaft, die zwischen den Zeilen versteckt lag. Zumindest hoffte sie das.
Sie nahm den Brief noch einmal zur Hand. Langsam, als ob er bei zu hastigem Lesen gleich verpuffen könnte. Sie wollte jedes Wort verstehen, jede Nuance einfangen. Und sie wollte unbedingt wissen: Wer schrieb so etwas? Wer wollte sich auf so geheimnisvolle Weise mit ihr versöhnen?
War es vielleicht Helena?
Die hatte beim letzten Treffen mit ihrer Schroffheit wieder einmal sämtliche diplomatischen Grenzen pulverisiert. Vielleicht war ihr ja aufgefallen, dass Worte schärfer sein können als jedes Küchenmesser. Aber nein – Helena war bekannt dafür, dass ihre Gedanken eine Direktverbindung zum Mund hatten, ohne Umweg über die Nachdenkzentrale. Wenn sie sich entschuldigen wollte, würde sie das wahrscheinlich zwischen Tür und Angel raushauen, so beiläufig wie: "Ach übrigens, sorry, und die Milch ist alle." Ein Brief? Nein. Unvorstellbar.
Ihr Mann?
Sie schnaubte leise. Da gab es keinen Grund für eine Versöhnung. Denn um sich zu versöhnen, müsste man sich vorher gestritten haben. Stattdessen lebten sie seit Jahren nebeneinander her wie zwei Züge auf Parallelgleisen: immer unterwegs, immer in Bewegung, aber niemals eine Weiche in Sicht.
Manchmal wünschte sie sich fast ein kleines, rhetorisches Scharmützel. Wenigstens ein Reibungspunkt, damit sie spürte: Da ist noch Leben in der Leitung. Stattdessen: sachliche Wetterberichte und politisches Achselzucken. Leidenschaft? Fehlanzeige. Körperliche Nähe? Eher eine archäologische Erinnerung.
Vielleicht ihre Mutter?
Das Verhältnis: nicht himmelhoch jauchzend, nicht zu Tode betrübt – einfach irgendwo zwischen diplomatisch und "mühsam, aber eh ok". Andere Töchter telefonieren täglich, um ihrer Mutter die Lieblingssendung nachzuerzählen. Wieder andere kriegen schon Ausschlag, wenn sie nur an ein gemeinsames Weihnachtsessen denken. Sie selbst hatte den Mittelweg gefunden: höflich, pflichtbewusst, ohne große Emotionen.
Aber vielleicht wollte ihre Mutter reinen Tisch machen? Man weiß ja nie – vielleicht steckte eine Krankheit dahinter, von der sie nichts ahnte. Der Gedanke ließ ihr Herz kurz schneller schlagen. Doch gleich beruhigte sie sich wieder: Wäre es wirklich etwas Ernstes, hätte ihre Mutter schon längst eine Familienkonferenz einberufen, inklusive Tagesordnung und Kuchen.
Ihr Sohn Jonathan?
Er… naja. Er könnte sich auch mal wieder melden. Natürlich: Job stressig, Freundin anspruchsvoll – schon klar. Aber ein kurzes Lebenszeichen wäre doch drin. Ein Brief als Ersatz für einen Anruf? Das wäre immerhin originell. Aber geheimnisvolle Botschaften à la "Kannst du mir verzeihen?" – das passte nicht zu ihm. Er schrieb eher Mails mit Betreffzeilen wie "Überweisung erledigt".
Johanna starrte auf das Handy in ihrer Hand. Frieda anrufen? Es war lange her, dass sie miteinander gesprochen hatten. Aber Frieda war … na ja, Frieda eben. Über sechzig, sah aus wie fünfzig. Ein Wunder der Natur, diese Frau, obwohl sie keinen Sport trieb und alles andere als asketisch lebte.
Eine alte Hippie-Seele, bunt, freiheitsliebend, chaotisch. Immer ein bisschen zu spät, immer ein bisschen zu ehrlich, und trotzdem konnte man ihr nicht böse sein. Weil sie es schaffte, Menschen einfach zu nehmen, wie sie waren. Ohne Schubladen, ohne Urteile, ohne Besserwisserei. Frieda konnte zuhören wie keine andere – und genau deshalb war sie trotz allem Chaos eine der verlässlichsten Freundinnen.
Johanna seufzte. Vielleicht war es genau das, was sie jetzt brauchte. Einfach Frieda.
Kapitel 3 | Schöne Erinnerungen
Ja, es gibt sie – diese Freundschaften, die kein Verfallsdatum kennen. Man hört ewig nichts voneinander, und wenn man sich wieder meldet, ist es so, als hätte man gestern gemeinsam Kaffee getrunken. Unkompliziert. Herzlich. Lustig. Schön war es, wieder einmal mit Frieda zu telefonieren. Und gleich fürs kommende Wochenende hatten sie ein Treffen im Kaffeehaus fixiert.
Ob Johanna von den anonymen Briefen erzählen sollte? Ein Teil von ihr war neugierig auf Friedas Reaktion – vielleicht war ja doch sie die Verfasserin? Aber ein anderer Teil wollte das Geheimnis für sich behalten. Ein kleines Stück Zauber, das man besser nicht zerredet. Dieses Kribbeln, diese Spannung – es fühlte sich an wie eine jugendliche Schwärmerei. Ein Schatz, den man vorsichtig in der Tasche trägt, damit er nicht herausfällt.
So viele inspirierende Gedanken tanzten in ihrem Kopf. Warum macht man das eigentlich nicht öfter – einfach jemanden anrufen, den man gern hat? Umgekehrt freut man sich doch auch. Vielleicht sogar jemanden, der so gar nicht damit rechnet. Eine alte Klassenkameradin? Eine ehemalige Mitbewohnerin? Oder… die Sandkastenliebe?
Johanna griff zu Stift und Papier. Eine Liste entstand - eine Liste von Menschen, die sie schon viel zu lange nicht mehr gesehen hatte. Menschen, denen sie gerne wieder einmal begegnen würde. Und zu ihrer Überraschung wuchs sie schneller, als sie dachte – Namen reihten sich aneinander wie Perlen. Mit jedem Namen kam eine Erinnerung, manche blass, andere so lebendig, dass sie fast Geräusche und Düfte dazu wahrnahm. Sie gönnte sich eine kleine romantische Zeitreise.
Da war das Klassenzimmer.
Der gutaussehende Geografielehrer Georg Bohrmann stand vorne, und seine Augen funkelten, wenn er von den heißesten Wüsten, den grünsten Dschungeln und den gefährlichsten Tieren erzählte. Selbst das Kreidequietschen klang bei ihm wie eine Symphonie. Georg konnte jedes Ohr für sich gewinnen, ob Mädchen oder Junge. Seine Geschichte von der Welt zogen alle in seinen Bann. Es wäre doch schön, ihm zu sagen, welche nachhaltige Spuren er in ihrem Leben hinterlassen hatte.
Dann erinnerte sie sich an die Strohmüllers und an den Urlaub in Marokko. An die Farben, die Düfte, das Lachen. Die Strohmüllers, dieses witzige Pärchen. Zu viert hatten sie Tränen gelacht und über Gott und die Welt philosophiert. Johanna hatte das Gefühl in der Gegenwart von diesen Menschen konnte sie alles sagen - naja, ... fast alles.
Auch die Studienzeit blitzte auf – Mensaessen, das legendär schlechte Spaghetti Bolognese, die aber mit Freunden trotzdem wie ein Festmahl schmeckte. Studentenpartys, bei denen man schwor, "nie wieder" zu trinken… bis zur nächsten Woche. Ob sie wohl heute noch auf so ein Fest kämen? Oder würden sie an der Tür abgewiesen mit einem mitleidigen "Sorry, das hier ist keine Ü50-Party"?
Und dann, wie aus einer Schublade des Herzens, tauchte Hubert auf. Der schöne Hubert. Schon im Kindergarten hatte er ihre kleine Seele stolpern lassen. Mit sechzehn, im Park hinterm Pavillon, dieser eine Kuss – zitternde Hände, rasendes Herz. Und dann… nichts. Warum? Feigheit? Scham? Schüchternheit? Vielleicht wäre sie heute mit ihm verheiratet, hätte sie damals einfach seine Hand genommen. Hubert war inzwischen geschieden und wieder in den Nachbarort gezogen. Ob er auch noch manchmal an den Pavillon dachte?
Johanna legte den Stift ab und sah auf ihre Liste. So viele Namen, so viele Geschichten. Das war ein Schatzplan, ein Atlas voller Herzverbindungen.
Und dann kam ihr ein Gedanke: Sie könnte doch auch Briefe schreiben? Anonym, geheimnisvoll, so wie sie selbst zwei erhalten hatte. Diese unscheinbaren Kuverts hatten in kürzester Zeit ihr Leben bunter gemacht. Warum sollte dieser Zauber nicht auch für andere wirken?
Sie klappte den Laptop auf. Der Bildschirm erwachte zum Leben, wie ein stiller Komplize. Johanna begann zu tippen. Vielleicht würde ihr erster Brief noch rechtzeitig im Briefkasten landen.
Kapitel 4 | Kriminelle Wendung
Liebe Frieda,
Du sollst wissen, dass es da draußen in der großen, weiten Welt viele Menschen gibt, die dich richtig gerne haben. Einer davon bin ich. Schön, dass es dich gibt! Ich wünsche dir alles Liebe und Gute auf deinem weiteren Lebensweg.
PS: Zerbrich dir nicht deinen wunderschönen Kopf darüber, wer der Verfasser sein könnte.
Zufrieden las Johanna den Brief noch einmal. Ja – das klang genau so, wie sie es wollte: warm, geheimnisvoll, mit einem Funken Poesie. Mit einem feierlichen Druck auf den "Print"-Button malte der Drucker ihr erstes kleines Abenteuer auf Papier.
Damit ihr Geheimnis noch sicherer wurde, hatte sie nun einen genialen Geistesblitz: Dasselbe Schreiben, nur mit ihrem Namen. Ein Ablenkungsmanöver erster Güte! Also schnell noch einmal "Print" gedrückt, beide Briefe sorgfältig gefaltet und in die Kuverts gesteckt. Frieda bekam ihren. Johanna auch. Doppeltes Spiel, doppeltes Herzklopfen. Es kitzelte sie bei dem Gedanken, Teil eines erfundenen Krimis zu sein. In ihrer Fantasie sah sie bereits die gesamte Polizeitruppe der Kleinstadt aufgeregt durch die Gassen hetzen, nur um den "anonymen Briefattentäter" zu entlarven.
Mit ihren zwei brisanten Kuverts im Gepäck machte sie sich schließlich auf den Weg in die Stadt. Johanna versuchte, unauffällig zu wirken. Nicht zu viele Leute ansehen, aber auch nicht nur auf den Boden starren – man wollte ja nicht wirken, als hätte man gerade eine Bank überfallen. "Gar nicht so einfach, wenn man als Briefgangsterin unterwegs ist", dachte sie und musste sich ein Lachen verkneifen.
Am Postschalter klappte alles reibungslos – bis zur entscheidenden Frage.
"Absender?"
Die Postbeamtin sah sie nicht einmal an, während sie die Stempel mit der Leidenschaft einer eingeschlafenen Weinbergschnecke auf die Briefe donnerte.
"Bitte?" fragte Johanna unschuldig.
"Gibt es keinen Absender?"
"Nein, es soll eine Überraschung werden!"
Die Dame zog eine Augenbraue hoch, ohne den Kopf zu heben. "Tsss. Diese Jugend von heute!"
Johanna schluckte ein Kichern hinunter, schnappte die Tasche und trat den Rückzug an – wie eine Geheimagentin, die soeben unbehelligt durch die Zollkontrolle gekommen war. Der weitere "Transport" lag nun in den Händen eines ahnungslosen Postboten. Johanna fühlte sich leicht, fast berauscht – wie eine Bankräuberin, die mit einem Koffer voller Herzbotschaften flieht.
Zuhause würde sie wieder die brave Ehefrau spielen. Abendessen vorbereiten, wie gewohnt. Doch dieses Abendessen heute würde nicht wie gewohnt sein. So viel Herzklopfen hatte sie schon lange nicht mehr.
Kapitel 5 | Ein kribbeliges Abendessen
"Hallo Schatz!"
Nein, das klang falsch. So begrüßte sie ihn nie. Aber wie dann?
Plötzlich wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass sie sich nicht erinnern konnte. Jahrelang hatte sie Karl einfach angesprochen – ohne darüber nachzudenken. Dass ihr das egal gewesen war, machte sie nun traurig. Sie suchte angestrengt in ihrem Kopf, ja sogar im Tagebuch nach Hinweisen. Aber dort stand nichts über Begrüßungen.
Die Haustür ging auf.
"Hallo Johanna!"
"Hallo Karl!"
Er stellte seine Schuhe akkurat neben die anderen, hängte die Jacke an ihren Platz. Sein Gesicht blieb neutral – kein Verdacht, keine Regung, die verriet, dass sie aus der Rolle gefallen war. Offenbar hatte sie intuitiv den richtigen Code erwischt. Der Begrüßungskuss folgte. Auch er war wie immer: flüchtig, emotionslos, ein Ritual ohne Herz, aber immerhin ein Ritual.
Er setzte sich. Sie atmete aus.
"Hmmm, hier duftet es nach meinem Lieblingsessen."
Natürlich roch er den Braten.
"Ja, es gibt Schweinebraten mit Semmelknödel und Sauerkraut."
Sie stellte das Bier dazu, sie prosteten sich zu, und dann senkte sich die Stille über den Tisch. Das leiseste Klirren von Besteck und Teller schien heute lauter als sonst – oder bildete sie sich das nur ein? Eigentlich war ihr das ganz recht. Denn solange keiner sprach, konnte sie auch nichts Falsches sagen.
Doch ihr Kopf rauschte.
Was, wenn er sie beobachtete? Dieser Blick von ihm – war er immer so, oder merkte er etwas? Hielt sie das Messer heute schiefer als sonst? Stützte sie sonst auch manchmal den Ellbogen auf? Jeder Atemzug schien verdächtig.
Sie hatte ja nichts verbrochen – und doch etwas zu verbergen. Dieses kleine, kribbelnde Geheimnis in ihrem Herzen. Darum war sie so nervös.
"Wie war dein Tag?"
Verdammt. Warum musste er ausgerechnet jetzt reden?
"Eigentlich so wie immer", log sie, während sie starr auf ihr Fleisch sah, als müsste sie es operieren. "Und deiner?"
"Bei mir auch: Immer die gleiche Leier."
Beide senkten die Köpfe über ihre Teller, als wäre dort die Wahrheit versteckt.
Kapitel 6 | Ein kribbeliges Abendessen
So nervös war er schon lange nicht mehr gewesen. Vielleicht zuletzt, als er Johanna den Heiratsantrag gemacht hatte. Jetzt pumpte das Adrenalin wieder durch seine Adern – aber er musste da durch. Es war schließlich Teil seines Plans.
Denn er war der Verfasser.
Er war es, der die anonymen Briefe geschrieben hatte.
Er öffnete die Tür.
"Hallo Johanna!"
"Hallo Karl!"
Routiniert legte er Schlüssel und Jacke ab, stellte die Schuhe in Reih und Glied. Dann der Kuss. Normalerweise eine Geste ohne Nachdenken, ein 08/15-Ritual. Doch heute war es anders. Er dachte viel zu viel darüber nach. Wie lange? Wie kurz? Am liebsten hätte er eine Gebrauchsanweisung in Händen gehabt: "Der perfekte Begrüßungskuss für Eheleute nach 20 Jahren".
Zum Glück löste Johanna das Problem von selbst, indem sie sich wieder zurückzog. Erleichtert setzte er sich an den Tisch und war insgeheim stolz, dass er seine Fassade so gut hielt.
Dann kam der Duft. Schweinebraten, Sauerkraut, Semmelknödel. Dazu ein Bier. Wenigstens das war vertraut.
Doch Karl wusste: Heute war nichts mehr wie sonst. Heute war er nicht nur Ehemann, sondern auch der geheime Spielleiter in einer Geschichte, die Johanna noch nicht durchschaute.
"Wie war dein Tag?" fragte er, fast automatisch.
Mist. Was, wenn sie von den Briefen sprach?
Aber sie antwortete nur: "Eigentlich so wie immer."
Er atmete auf.
"Und deiner?"
"Immer die gleiche Leier."
Beide beugten sich wieder über ihre Teller. Nach außen hin ein Abendessen wie so viele zuvor. Doch in Wahrheit war die Bühne bereitet. Und Karl wusste: Das Spiel hatte gerade erst begonnen.
Kapitel 7 | Der schöne Hubert
Es war einige Wochen zuvor gewesen, an einem dieser Samstage, die wie ein graues Einerlei im Kalender verschwinden. Karl hatte nichts Besonderes vor, nur ein paar Schrauben im Baumarkt besorgen. Doch genau dort, zwischen Holzleisten und Dübelregalen, stolperte er mitten in die Vergangenheit.
Vor ihm stand: Hubert.
Der schöne Hubert.
Oder besser gesagt – der ehemals schöne Hubert.
Karl erkannte ihn sofort. Früher war er der, von dem alle sprachen. Breitestes Lächeln, lockere Sprüche, Haare, die aussahen wie frisch aus der Shampoo-Werbung. Heute dagegen wirkte Hubert … verbraucht. Die Schultern hingen, das Gesicht war von Falten zerfurcht, die Haare lichter, die Augen müde. Nur manchmal blitzte noch kurz der alte Glanz auf, bevor er wieder in Schatten fiel.
"Karl!", rief Hubert überrascht. "Ach, dich gibt's also auch noch!"
Sie gaben sich die Hand, und Karl war noch dabei, eine passende Begrüßung zu finden, da prasselte es schon auf ihn nieder. Hubert redete – nein, er klagte. Von seiner Frau verlassen. Von Einsamkeit zerfressen. Von Fehlern, die er nicht rechtzeitig korrigiert hatte.
"Weißt du", sagte Hubert mit einer Stimme, die mehr kratzte als klang, "ich dachte immer: Es bleibt noch Zeit. Morgen vielleicht. Aber dann … war plötzlich kein Morgen mehr übrig."
Karl nickte stumm. Was hätte er auch sagen sollen? Schließlich kam ihm der Satz über die Lippen, der so banal wie wahr war: "Ja … im Nachhinein ist man immer klüger."
Diese Worte hallten in ihm nach, noch als Hubert längst verschwunden war. Er sah ihm nach, wie er mit gebeugten Schultern davon trottete – ein Mann, der zu spät erkannt hatte, wie kostbar Liebe ist. Und in Karl wuchs ein Entschluss: Das passiert mir nicht. Er wollte nicht warten, bis Johanna nur noch eine Fremde neben ihm war. Er wollte handeln – jetzt.
Karl, der Techniker, suchte nach einem Plan. Er kaufte heimlich Bücher über Ehe, Liebe, Romantik – und brachte die klugen Ratschläge auf einen Nenner. Acht Punkte, wie eine Skizze für das Herz.
- Mach ihr klar, dass sie einzigartig ist.
- Entschuldige dich, wenn du etwas Falsches getan hast. (Und auch wenn Du glaubst, dass Du richtig liegst.)
- Sei kreativ und romantisch.
- Bleib geheimnisvoll.
- Hör ihr zu und schenke ihr volle Aufmerksamkeit.
- Rede mit ihr – auch wenn dir nichts einfällt.
- Verwöhne sie mit Zärtlichkeiten und schönen Worten.
- Sag ihr, dass du sie liebst. Immer wieder.
So wurde seine Idee geboren: Die Romantische Schnitzeljagd. Ein Spiel, das Johanna zurück ins Herz führen sollte. Karl lächelte bei dem Gedanken. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte er sich nicht nur wie ein Ehemann – sondern wie ein Abenteurer.
Kapitel 8 | Duell auf Augenhöhe
Im Kaffeehaus saß Johanna und wartete. Frieda war immer zehn Minuten zu spät – darauf konnte man sich verlassen wie auf den Sonnenaufgang. Und tatsächlich, auf die Sekunde genau nach Frieda-Zeitrechnung öffnete sich die Tür. Johanna winkte, und Frieda kam lächelnd auf sie zu.
Nach den ersten Höflichkeiten griff Frieda plötzlich in ihre Manteltasche. Mit langsamer Geste zog sie einen Brief hervor – ihren Brief. Johanna erkannte das Kuvert sofort. Johanna spürte, wie ihr Herzschlag schneller wurde. Doch sie reagierte instinktiv. Fast gleichzeitig zog sie selbst ein Kuvert aus ihrer Handtasche hervor und legte es auf den Tisch.
"Schau, was ich diese Woche bekommen hab!"
Sie öffnete den Brief.
Liebe Johanna, du sollst wissen ...
Frieda starrte auf die Zeilen. Natürlich kannte sie den Text – es war derselbe, den sie selbst bekommen hatte, nur mit anderer Anrede. Ihr Gesicht veränderte sich, als ob ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hätte.
Johanna nutzte die Gelegenheit und spielte die Überraschung perfekt. "Na so was! Das ist ja ein Ding, dass wir beide so einen Brief bekommen!"
Frieda nickte langsam. Johanna sah die Verwunderung in ihren Augen, und zum ersten Mal entspannte sie sich innerlich ein wenig. Dann lachten beide – ein bisschen zu laut, ein bisschen zu nervös.
"Vielleicht steckt ein Serientäter dahinter", sagte Frieda schließlich und lachte.
Johanna musste husten, um ein zu verräterisches Lachen zu kaschieren. "Ja, wer weiß", erwiderte sie und stimmte in das Lachen ihrer Freundin ein.
Bei Kaffee und Kuchen begannen die beiden zu spekulieren. Johanna hatte das Gefühl, als säßen sie in einem Kriminalfilm. Sie war plötzlich wieder ein Mädchen, das mit der besten Freundin Geheimnisse austauscht, nur dass es diesmal um echte Briefe und echte Gefühle ging.
"Und wenn es der schöne Hubert ist?" warf Frieda irgendwann ein.
Johanna fühlte ein Kribbeln. Ja, warum nicht? Hubert – frisch geschieden, charmant wie eh und je, mit grauen Schläfen, die ihn fast noch attraktiver machten. Ein Teil von ihr gefiel dieser Gedanke sogar.
"Das wäre möglich …", sagte sie leise und nippte an ihrem Cappuccino.
Und während sie so dastand, zwischen Kaffeetasse und Kuchenkrümeln, ließ Johanna den Gedanken zu:
Vielleicht steckt wirklich der schöne Hubert dahinter. Und wenn ja – wäre das so schlimm?
Kapitel 9 | Tagträume mit Hubert
Seit dem Treffen mit Frieda ging Johanna der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf.
Der schöne Hubert.
Natürlich – wer sonst?
Sie stellte sich vor, wie er nach all den Jahren einsam in seinem Haus saß, mit zerzaustem Haar und melancholischem Blick, und plötzlich die Idee hatte: Ich schreibe Johanna einen Brief.
So ein romantischer Einzelkämpfer, der die Worte findet, die sie im Alltag so schmerzlich vermisste.
Am Küchentisch stützte sie das Kinn in die Hand und ließ ihrer Fantasie freien Lauf.
Vielleicht würde er ihr demnächst ein Kuvert in die Hand drücken – nicht mehr anonym, sondern ganz offen: "Von Hubert, deinem ewigen Verehrer."
Und vielleicht stünde er dann mit einem Strauß roter Rosen vor der Tür, ein bisschen verlegen, ein bisschen charmant, wie er es schon damals im Park gewesen war, als sie beide vierzehn waren.
Johanna musste lachen. Gott, was für ein Kitsch! Aber irgendwie schön.
Sie erinnerte sich an den Kuss hinterm Pavillon. Seine Hände waren zittrig gewesen, ihre Beine auch, und das Herz hatte so laut geschlagen, dass sie schwor, die Amseln müssten es gehört haben. Und dann – nichts. Jahre vergingen. Jeder war seinen Weg gegangen. Und doch … jetzt war da dieser Gedanke, dass er vielleicht zurückgekehrt war, als Briefeschreiber, als Ritter aus der Vergangenheit.
Mit verträumtem Blick stand sie am Fenster und sah hinaus in den Garten. Ein Teil von ihr genoss dieses Kopfkino. Endlich wieder Herzklopfen. Endlich wieder ein Geheimnis, das sie lebendig machte. Aber ein anderer Teil flüsterte ihr zu: Spinnst du, Johanna? Hubert? Ausgerechnet Hubert?
Sie schüttelte den Kopf und lachte leise über sich selbst. Und trotzdem … das Kribbeln blieb.
Am Abend griff sie zum Notizbuch, kritzelte "Hubert?" auf eine Seite und setzte ein dickes Fragezeichen dahinter. Dann lehnte sie sich zurück und ließ die Gedanken treiben.
Vielleicht würde schon bald ein neuer Brief kommen.
Vielleicht mit einem Hinweis.
Vielleicht sogar mit einer Einladung.
Und vielleicht – nur vielleicht – war es tatsächlich der schöne Hubert.
Kapitel 10 | Ein Albtraum
Karl saß in seinem kleinen Büro, das eher einer Kommandozentrale glich. Kabel schlängelten sich über den Boden, eine Lampe summte leise, als hielte auch sie den Atem an. Auf dem Schreibtisch drängten sich Kaffeetassen mit Ringen von alter Nervosität, daneben ein Notizblock voller krakeliger Ideen: "Überraschung = Herzklopfen", "Romantik + Technik = ?".
Doch im Mittelpunkt standen die Bildschirme. Vier an der Zahl. Jeder zeigte einen anderen Winkel des Hauses. Das Wohnzimmer. Der Flur. Die Küche. Und draußen den Blick zum Postkasten.
Seine Finger trommelten unruhig auf der Tischplatte. Er konnte spüren, wie ihm das Blut bis in die Schläfen pochte.
Heute ist der Tag. Heute findet sie das Paket.
Er lehnte sich nach vorne, so nah, dass sein Atem die Scheibe beschlug.
Wird sie sich freuen? Wird sie lächeln? Wird sie es spüren – dass ich es ernst meine? Oder wird sie mich durchschauen?
Er wusste, er trieb es zu weit. Kameras im ganzen Haus – das war nicht mehr romantisch, das war kriminell. Und doch … er konnte nicht anders. Er wollte sehen, wie ihre Augen glänzten, wenn sie die nächste Etappe der Schnitzeljagd entdeckte.
Und da – Bewegung auf dem Monitor.
Johanna öffnete die Haustür.
Karl hielt den Atem an. Schritt für Schritt ging sie zum Postkasten, nahm das kleine Paket heraus, schloss wieder die Tür. Nun trug sie das Päckchen in die Wohnung, legte sich damit auf die Couch.
Ja, genau so. Mach es auf. Bitte, mach es auf.
Sie riss den Karton auf.
Eine Rose kam zum Vorschein.
Johanna hob sie an die Nase, schloss kurz die Augen. Karl sog jede Bewegung auf, als wäre sie ein Liebesfilm nur für ihn. Dann entfaltete sie den Brief.
Schnell öffnete er das Word-Dokument auf seinem Rechner, um synchron mitzulesen:
Sieh diese Rose als Zeichen unserer damaligen Liebe.
Sie musste verwelken, um nun wieder aufs Neue erblühen zu können.
Karl grinste. Pathetischer Kitsch, der sonst so gar nicht zu ihm passte. Aber sie liebte genau diese Worte – er wusste es, weil er sie heimlich aus einem ihrer Bücher abgeschrieben hatte.
Schick mir ein Zeichen, wenn du bereit bist, diesen Weg voll Rosenblätter mit mir aufs Neue zu beschreiten.
Ein Augenblick der Stille.
Dann hob Johanna langsam die Hand – und winkte. Direkt in die Kamera.
Karl erstarrte.
Nein … das konnte nicht sein.
Sie kam näher.
Immer näher.
Ihre Hand griff nach der Linse.
Der Bildschirm wurde schwarz.
Und dann – ein Schrei.
Laut. Durchdringend. Wieder und wieder.
"Karl! Karl! Alles in Ordnung mit dir? Wach auf!"
Er fuhr hoch. Schweißnass, atemlos.
Neben ihm saß Johanna im Bett, hielt ihn an den Schultern. Ihre Augen waren voller Sorge.
"Du hast im Schlaf geschrien", sagte sie leise. "War es ein Albtraum?"
Karl nickte. Atmete tief ein, tief aus.
Ja, ein Albtraum. Aber die Idee mit den Kameras – die hatte er tatsächlich gehabt. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Und sofort wieder verworfen. Er war kein Stalker, kein Krimineller. Er war Karl.
Und doch musste er sich eingestehen: Seit er die Romantische Schnitzeljagd gestartet hatte, spukten ihm Gedanken durch den Kopf, die er früher nie gehabt hätte. Wilde, verrückte, manchmal beängstigende – aber auch überraschend kreative.
Karl legte sich wieder hin, zog die Decke bis ans Kinn.
Trotz allem musste er schmunzeln.
Denn eines stand fest: Er konnte den neuen Karl inzwischen ganz gut leiden.
Kapitel 11 | War er es wirklich?
Was war nur mit Karl los? fragte sich Johanna. In letzter Zeit verhielt er sich … seltsam. Heute früh hatte er tatsächlich gekochte Eier serviert. "Abwechslung muss sein", meinte er, als wäre das eine kulinarische Offenbarung.
Auch die Zeitung hatte er im Rekordtempo durchgeblättert, und mit der gewonnenen Zeit führte er tatsächlich ein Gespräch – nicht Smalltalk, sondern fast schon Smalltalk mit Tiefgang. Und während er den Tisch abräumte, blickte er sie ständig an. Johanna fühlte sich dabei beobachtet – aber nicht unangenehm. Nein, da war ein anderes Gefühl, ein Kribbeln, das sie noch nicht benennen konnte.
Danach lief alles wieder nach Schema F. Toilette. Schuhe. Jacke. Spiegelkontrolle. Krawatte. Seitenscheitel. Abschiedskuss. Die einstudierte Choreografie ihres Alltags. Sie hörte das Auto wegfahren – und war wieder allein.
Allein mit der Vorfreude.
Es war eine Woche vergangen, seit der zweite Brief ins Haus geflattert war. Wenn der unbekannte Verehrer nach System vorging – und das vermutete sie stark – dann musste heute die nächste Botschaft kommen. Sie saß am Fenster, ungeduldig wie ein Kind am Nikolaustag, und starrte hinaus.
Endlich bog das gelbe Auto um die Ecke. Johanna huschte hinter den Vorhang. Der Postbote stieg aus, Motor lief weiter, ein leises Klacken im Briefkastenschlitz – dann eine Tür, die ins Schloss fiel, und das Auto rollte wieder davon.
Mit pochendem Herzen schlich sie zum Postkasten. Kein Brief. Ein kleines Paket.
Auf der Couch angekommen, siegte die Neugier. Ohne Umschweife riss sie das Päckchen auf. Darin lag eine einzelne Rose, dunkelrot und wunderschön. Johanna hob sie an die Nase, schloss die Augen – und spürte, wie Erinnerungen aufblühten.
Sie entfaltete den beigelegten Brief. Nein, sie las nicht – sie verschlang jedes Wort.
Sieh diese Rose als Zeichen unserer damaligen Liebe. Sie musste verwelken, um nun wieder aufs Neue erblühen zu können.
Johanna stockte der Atem. Damals. Ja, damals war sie verliebt gewesen. Vor langer Zeit. In ihn.
Schenk mir ein Zeichen, wenn du bereit bist, diesen Weg voll Rosenblätter mit mir aufs Neue zu beschreiten.
War es wirklich Hubert?
Warum eigentlich nicht? Er war nun geschieden, das Dorf sprach ohnehin über seine Rückkehr in die Welt der Frauen. Alles ergab plötzlich Sinn. Selbst der erste Brief: Vielleicht wollte er sich entschuldigen, dass er ihr nach dem Kuss im Park aus dem Weg gegangen war.
Johanna lächelte in sich hinein. Hubert, der schöne Hubert. War er es wirklich?
Doch eine Frage brannte sich sofort in ihren Kopf:
Welches Zeichen sollte sie ihm geben?
Kapitel 12 | Entlarvt
Die nächsten Stunden verbrachte Johanna damit, anonyme Briefe anzufertigen. Das ging erstaunlich schnell: Nur noch den Namen in der Begrüßung austauschen, auf "Drucken" klicken – fertig. Kein großer literarischer Kraftakt, aber hoffentlich ein kleiner Lichtblick für die Empfänger.
Nebenbei recherchierte sie im Internet. Alte Bekannte, ehemalige Studienfreunde, fast vergessene Nachbarn – erstaunlich leicht waren Telefonnummern und Adressen aufzuspüren. Klick für Klick wuchs ihre Excel-Liste, und damit das Gefühl, ein richtiges Projekt gestartet zu haben.
Zufrieden betrachtete sie den Stapel frisch gefalteter Briefe. Wieder dieses Kribbeln – dasselbe wie damals bei ihrem ersten anonymen Schreiben. Mit fast diebischer Vorfreude packte sie die "heiße Ware" in eine Tragetasche. Als Tarnung legte sie ein Halstuch darüber und verteilte diverse Damenutensilien obendrauf. Ein perfekter doppelter Boden, dachte sie stolz. Niemand würde Verdacht schöpfen.
Am Postamt angekommen, öffnete sie noch einmal verstohlen die Tasche, um sich zu vergewissern: alles da, alles sicher. Sie stieg aus dem Auto, atmete tief durch und ging Richtung Schalter. Hoffentlich war heute wieder dieselbe unaufmerksame Beamtin da – das würde ihre Mission erheblich erleichtern.
Doch so weit kam sie nicht.
"Hallo Johanna!"
Das Herz rutschte ihr in die Hose, und die Tasche gleich hinterher. Der Inhalt kippte in Zeitlupe auf den Gehsteig, Umschläge und Papier flatterten wie weiße Vögelchen davon. Mit klopfendem Herzen bückte sie sich, um die Spuren ihres Doppellebens zu verwischen.
"Warte, ich helfe dir!"
Ausgerechnet Frieda.
Johanna wollte protestieren, doch da hatte ihre Freundin schon zugegriffen – und hielt ein Beweisstück in der Hand.
"Ist es das, wonach es aussieht?" Friedas Blick war eine Mischung aus Detektivin und strenger Lehrerin. "Hast du auch anonyme Briefe geschrieben?"
Johanna schluckte. "Ja." Mehr brachte sie nicht heraus. Einen Moment lang hielten sich ihre Blicke fest. Dann zwinkerte Frieda verschwörerisch.
"Ich auch."
Johanna starrte sie an. "An wen?"
Kapitel 13 | Zwei Komplizinnen
Im Kaffeehaus saßen Johanna und Frieda beisammen. Sie hielten die Köpfe dicht zusammen und sprachen leise, fast verschwörerisch. Johanna konnte ihre Neugier nicht mehr zurückhalten.
"Na, sag schon, Frieda – wem hast du geschrieben?"
Frieda hob abwehrend die Hand. "Nicht so schnell! Erst der Reihe nach."
Sie erzählte: "Am Anfang habe ich mich einfach nur über den anonymen Brief gefreut. Ich habe überlegt, von wem er wohl sein könnte."
Johanna beugte sich gespannt vor. "Und? An wen hast du gedacht?"
"Ehrlich gesagt … an dich", antwortete Frieda und sah Johanna direkt in die Augen. "Ich habe dich als Erste verdächtigt."
Johanna schüttelte schnell den Kopf. "Aber das stimmt doch nicht."
"Nein," sagte Frieda, "inzwischen weiß ich das auch."
Johanna lächelte erleichtert. Gut, dachte sie, dann ist sie überzeugt.
Frieda fuhr fort: "Und dann habe ich mir gedacht: Wenn es Hubert war, der diesen anonymen Brief geschrieben hat, dann freut er sich doch sicherlich auch, wenn er so einen schönen Brief bekommt."
Johanna hielt den Atem an. "Und wenn er es nicht war?"
Frieda grinste und machte eine kleine Pause. Dann flüsterte sie heimlich: "Dann freut er sich hoffentlich umso mehr." Ihr Grinsen wurde dabei immer größer. Frieda hatte wahrscheinlich gerade irgendwelche Hubert-Fantasien in ihrem Kopf.
Einen Augenblick sahen sich beide an. Dann mussten sie lachen – erst leise, dann lauter. Schließlich hielten sie sich die Servietten vor den Mund, damit das ganze Kaffeehaus nicht mitbekam, dass zwei Briefattentäterinnen an einem Tisch saßen.
Kapitel 14 | Zerbrich dir nicht den Kopf
Der schöne Hubert saß in seiner Küche, die leerer wirkte, seit Helga nicht mehr da war. Vor ihm auf dem Tisch lag der Brief, den er bereits zum zehnten Mal gelesen hatte. "Zerbrich dir nicht den hübschen Kopf" stand da zum Schluss. Doch genau das tat er nun seit Stunden.
Ja, es freute ihn, dass da jemand war, der offenbar noch an ihn dachte. Das tat richtig gut. Aber wer? Wer hatte diese Zeilen geschrieben? Insgeheim hoffte er, es sei Helga – seine Helga, die ihm auf diese rätselhafte Weise vielleicht eine zweite Chance geben wollte.
Und wenn es so wäre … oh, er würde diese Chance nutzen. Dieses Mal würde er es besser machen. Mehr Aufmerksamkeit, mehr kleine Geschenke, Blumen, Schmuck – alles, was er früher versäumt hatte. Vor allem aber: er würde ihr zuhören, statt sich ablenken zu lassen.
Hubert dachte an Karls Worte, die er neulich gehört hatte: "Man wird klüger, wenn's schon fast zu spät ist." Ja, Karl hatte recht. Nur blöd, dass man die klugen Einsichten meist erst bekommt, wenn die Ringe schon abgelegt sind.
Sein Blick schweifte aus dem Fenster, doch sein Kopf war längst in der Vergangenheit. Damals, im Studium, hatte er Helga kennengelernt. Sie war der Star – alle Männer liefen ihr nach. Aber nur er, Hubert, hatte sie für sich gewonnen. Bald war sie schwanger, die Schwiegereltern drängten zur Hochzeit. Ihm war das recht, er liebte sie ja. Die Flitterwochen, das erste Ehejahr – pures Glück.
Doch mit den Kindern, Simon und Sebastian, wurde es komplizierter. Helga war mit Haushalt und Kindererziehung ausgelastet, er dagegen … hatte zu viel Zeit. Und zu viele Gelegenheiten. Was sollte ein Mann denn tun, wenn junge Damen mit verführerischem Lächeln zweideutige Angebote machten? Immer Nein zu sagen, sei biologisch unmöglich, redete er sich ein. Und außerdem – es war ja nie ernst. Geliebt hatte er nur Helga.
Das alles hatte er auch der Scheidungsrichterin erklärt. Doch die Richterin hatte kein bisschen Verständnis gezeigt. Stattdessen wanderte das Mitleid zu Helga. Und mit dem Mitleid gleich das Haus. Und der Mercedes. Hubert blieb nur ein kleines Apartment, die Kinder durfte er immerhin ab und zu sehen. Helga bekam … alles. Sogar den Tennislehrer.
Hubert starrte wieder auf den Brief. "Zerbrich dir nicht den Kopf."
Zu spät. Sein Kopf war längst ein Trümmerhaufen aus Reue, Sehnsucht und einem winzigen Rest Hoffnung.
Kapitel 15 | Rosengrüße zurück
Mit einem langen Seufzer ließ sich Johanna auf die Couch fallen. Endlich war sie wieder allein. Das war knapp gewesen! Fast wäre sie aufgeflogen, als ihr die Briefe aus der Handtasche geflattert waren. Zum Glück hatte Frieda ihren nervösen Blick nicht bemerkt. Auch der rasende Puls und die feuchten Hände waren allein ihr Geheimnis geblieben. Das Schicksal hatte es also noch einmal gut mit ihr gemeint – Johanna durfte weiterhin die anonyme Briefattentäterin spielen.
Und das Beste: Sie hatte schon eine Komplizin. Frieda! Die hatte doch tatsächlich einen Brief an den schönen Hubert geschrieben. Eigentlich eine gute Idee, dachte Johanna – und beschloss, es genauso zu machen.
Gesagt, getan. Sie würde ihm ebenfalls schreiben. Ihr fiel sofort das Paket mit der Rose und dem poetischen Brief ein, das sie so bewegt hatte. Auf Rosenwegen mit dir … – dieser Gedanke war schön. Inspiriert begann sie zu tippen.
Die erste Version wurde wieder gelöscht – zu dramatisch.
Die zweite – zu persönlich.
Die dritte – zu kindisch.
Die vierte – öd und langweilig.
Schließlich entschied sie sich für das Motto: In der Kürze liegt die Würze.
"Danke für die Rose, lieber Hubert!"
Wenn er Mister Anonym war, würde er die Botschaft verstehen. Und wenn nicht – nun ja, dann würde die Sache einfach im Sand verlaufen. Kein Risiko, nur ein Spiel.
Doch bevor sie den Brief eintütete, nahm Johanna noch einmal den dritten anonymen Brief zur Hand. Sie sog die Worte in sich auf. Wie konnte ein Mann nur so etwas Schönes schreiben? Vielleicht steckte in Hubert tatsächlich eine romantische Ader, die sie nie für möglich gehalten hätte.
Plötzlich stockte sie. Irgendetwas kam ihr seltsam bekannt vor. Sie runzelte die Stirn, stand auf und griff zielstrebig nach einem Buch aus dem Regal. Wenige Sekunden später hatte sie die richtige Seite gefunden.
"Sieh diese Rose als Zeichen unserer damaligen Liebe. Sie musste verwelken …"
Den Rest konnte sie auswendig mitsprechen. Wort für Wort identisch mit dem Brief.
Johanna stand da, den Brief in der einen, das Buch in der anderen Hand – und musste lachen. Kopfschüttelnd setzte sie sich wieder auf die Couch.
Natürlich, der Verfasser hatte die Zeilen abgeschrieben. Kein Dichtergenie, sondern einfach ein guter Abschreiber. Aber was machte das schon? Immerhin hatte er die Mühe auf sich genommen, nach den passenden Worten zu suchen – und sie in Szene zu setzen.
Manchmal, so dachte Johanna, war Romantik vielleicht gar nicht die große Kunst, sondern schlicht die Geste. Die Idee. Das Spiel.
Und genau dieses Spiel begann ihr mehr und mehr zu gefallen.
Kapitel 16 | Die gute, alte Zeit
Frieda schlenderte gemächlich vom Kaffeehaus nach Hause. Ihre Schritte hatten etwas Schwebendes, als ob sie ein kleines Geheimnis mit sich trug, das sie jünger machte. Ja, es war tatsächlich schön, wieder einmal mit Johanna so herzlich geplaudert zu haben. Und noch schöner war es, dass sie nun ein gemeinsames Geheimnis verband. Diese verschwörerische Nähe ließ Frieda fast kichern wie ein Teenager.
"Die gute, alte Zeit", murmelte sie vor sich hin und musste schmunzeln.
Unwillkürlich tauchte sie ab in Erinnerungen. Damals, als Johanna ihr zum ersten Mal von diesem Kuss erzählt hatte – im Park, hinter dem Pavillon. Johannas erster Kuss, eine große Sache. Nur: Hubert war da schon geübter. Eigentlich viel zu geübt. Schon damals hatte er ein Händchen dafür, die Herzen der Mädchen gleich reihenweise zu sammeln wie Briefmarken. Und nach dem Sammeln kam das Tauschen – nur dass Hubert seine "Sammlung" ungern wieder hergab.
Selbst als verheirateter Mann blieb er der Schwarm vieler Frauen. Frieda hatte es mit eigenen Augen gesehen: wie die Mädchen in der Disco, später die Frauen bei Vereinsfesten, ja selbst die Mütter bei Elternabenden – alle hatten diesen Glanz in den Augen, wenn der schöne Hubert den Raum betrat. Manche tuschelten, manche kicherten, andere gaben sich betont unbeeindruckt. Aber alle, wirklich alle, nahmen ihn wahr.
Und Hubert genoss das. Zu sehr.
Frieda seufzte. Jetzt war er schon seit einiger Zeit wieder "am Markt", frei und offiziell zu haben. Doch die große Nachfrage von früher war irgendwie versiegt. Kein Blitzlichtgewitter mehr, kein Gedränge an seiner Seite. Stattdessen sah er heute oft traurig aus, fast verloren. Und das, obwohl er noch immer ziemlich gut aussah. In Badehose hätte er glatt Mitch aus "Baywatch" Konkurrenz machen können.
Warum also kein Happy End in Sicht? Vielleicht lag es an diesem verzweifelten Funkeln in seinen Augen, wenn er mit einer Frau sprach. Zu viel Druck. Zu sehr auf der Suche. Fast schon ein bisschen … abturnend.
Ja, der einstige Casanova war auf einmal kein strahlender Held mehr, sondern ein Mann, der sein Selbstvertrauen verloren hatte.
Und da kam Frieda dieser verrückte Gedanke: Vielleicht konnte man ihm genau dieses Selbstvertrauen zurückgeben – mit einem anonymen Brief, so liebevoll und geheimnisvoll, dass er sich wieder begehrt fühlte.
Sie musste grinsen. "Ja, das war eine gute Idee", dachte sie. Und wer konnte schon ahnen, dass diese kleine Idee bald viel größere Kreise ziehen würde …
Kapitel 17 | Auf der Jagd
Ein zweiter anonymer Brief lag vor Hubert. Und wieder musste er sich seinen hübschen Kopf zerbrechen. Er war noch nie besonders schlau gewesen, doch aus diesen Zeilen wurde er auch nicht schlauer.
"Danke für die Rose, lieber Hubert."
Was sollte das bedeuten? Er hatte doch seit Ewigkeiten niemandem mehr Rosen geschenkt. War das so etwas wie umgekehrte Psychologie? Man bedankt sich im Vorhinein für etwas, das man sich im Nachhinein wünscht?
Warum nicht. Hubert beschloss, das Spiel mitzuspielen. Ja, er würde seiner geliebten Helga wieder eine Rose schenken. Doch einfach bei ihr klingeln? Und womöglich Boris, der Tennislehrer, öffnet die Tür? Nein. Das Risiko war zu groß.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er an die letzte Begegnung mit Boris dachte. Betrunken hatte er ihn damals zum Duell herausgefordert – ein Desaster. Nur knapp war er mit einem blauen Auge davongekommen. Das sollte nicht noch einmal passieren.
Er würde es anders machen. Listiger. Wie ein Jäger, der sein Wild beobachtet, ehe er zuschlägt. Früher war er ein erfolgreicher Schütze gewesen, und diese Erfahrung konnte er nutzen. Also besorgte er sich in der Stadt alles, was er brauchte, und fuhr hinaus zu Helgas Haus.
Es lag einsam in der Landschaft – weit und breit keine Nachbarn. Perfekt für sein Vorhaben. Hubert legte die Handschuhe an, der Feldstecher um den Hals. Er sah, wie Helga und Boris das Haus verließen, Sporttasche im Schlepptau. Tennis. Das verschaffte ihm Zeit. Sein Puls raste, als er den Kofferraum öffnete.
Rosen. Dutzende Rosen.
Er nahm die erste in die Hand. Zart, beinahe ehrfürchtig. "Eine für dich, meine Helga." Mit einem kleinen Spaten grub er die Erde auf. Feucht und schwer roch sie nach Frühling, nach Neubeginn. Der Schweiß lief ihm schon nach den ersten Minuten von der Stirn. "Verdammt, das ist Arbeit … aber Liebe darf Arbeit sein. Ja, Liebe ist Arbeit. Und diesmal mache ich sie mir."
Er setzte die Rose ein, klopfte die Erde fest. Dann die nächste. Wieder bücken, graben, drücken, Erde an die Finger, Dornen an den Handschuhen. Er keuchte, doch er spürte dabei auch einen seltsamen Stolz. "Wenn sie das sieht … sie wird wissen, dass ich es ernst meine. Keine Ausrede, kein Gerede, sondern Rosen. Rosen sprechen ihre eigene Sprache."
Die Minuten dehnten sich. Der Himmel färbte sich langsam ins Spätgoldene. Hubert schnaufte, richtete sich auf, streckte den Rücken. Seine Knie taten weh, sein Shirt klebte an ihm. Aber wenn er den Blick zurückwandte, konnte er schon eine kleine Allee erkennen. Rot auf Schwarz, zarte Blüten entlang der Einfahrt.
Er lächelte, ganz kurz, und grub weiter.
Während er arbeitete, kamen Erinnerungen. Das erste Mal, als er Helga Blumen schenkte – damals im Studium. Eine einzelne Nelke, billig, aber sie hatte gestrahlt, als wäre es ein ganzer Strauß. Später hatte er aufgehört damit. "Zu beschäftigt … zu müde … keine Zeit …" Ausreden. Immer nur Ausreden. Er biss die Zähne zusammen, schob die nächste Rose in die Erde.
"Helga, diesmal keine Ausreden."
Nach einer Stunde war sein Rücken steif, seine Hände voller kleiner Kratzer. Die Rosenreihe wurde länger. Immer wieder blickte er zur Straße, lauschte, ob sich ein Motor näherte. Nichts. Nur das rhythmische Scharren des Spatens, sein schweres Atmen, das dumpfe Klatschen der Erde.
Noch eine Rose. Noch eine.
"Vielleicht war das mit Boris nur eine Phase. Vielleicht merkt sie irgendwann, dass er nicht der Richtige ist. Tennis, Muskeln, ja … aber wo bleibt die Seele? Ich hab Seele, Helga. Ich hab sie nur zu spät gezeigt."
Er lachte leise, bitter, während er die nächste Rose einsetzte. Ein Hund bellte in der Ferne.
Die Zeit zerrann. Seine Knie waren taub, sein Rücken brannte. Er atmete Staub und Blütenduft zugleich. Und doch – mit jeder Rose fühlte er sich lebendiger. Fast so, als würde er Stück für Stück wieder gutmachen, was er all die Jahre versäumt hatte.
Als er die letzte Rose festdrückte, war es beinahe dunkel. Ein Schauer lief ihm über den Rücken – diesmal nicht von Erregung, sondern von purer Erschöpfung. Zwei Stunden hatte er gearbeitet wie ein Besessener. Vor ihm lag nun ein rotes Meer, das sich vom Gartentor bis zur Haustür zog. Ein stilles Versprechen aus Blüten.
Und genau in diesem Moment – Motorengeräusch. Scheinwerferlicht.
Helga und Boris waren zurück.
Panisch warf sich Hubert hinter die Hecke. Er presste sich in die Erde, Herz klopfend bis zum Hals. Der Bewegungsmelder sprang an, tauchte die Einfahrt in helles Licht.
Helga blieb wie verzaubert stehen. "Was ist das für eine bezaubernde Überraschung?" Sie schlug die Hände vors Gesicht, Tränen glänzten in ihren Augen. Dann wandte sie sich zu Boris: "Hast du das gemacht? Hast du diese Rosen für mich einpflanzen lassen?"
Boris zog sie stolz an sich. "Natürlich, mein Liebling. Für dich tu ich alles."
Und Hubert lag im Dreck, die Erde kalt im Gesicht, die Rosen duftend vor seinen Augen – Rosen, die nun Boris gehörten.
Kapitel 18 | Vier Hände und ein Rücken
Zuhause angekommen, stellte Johanna die Tasche in die Ecke und nahm eine lange Dusche. Das warme Wasser prasselte auf ihre Haut, während sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Hubert hatte nun also schon zwei Briefe bekommen. Und was bedeutete das für sie? Eigentlich nichts. Wenn er tatsächlich der geheimnisvolle Autor der Liebes-Rätsel-Rallye war, würde er wohl unbeirrt weitermachen.
Eine neue Komponente kam jedoch hinzu: Frieda. Offenbar hatte sie ein Auge auf den schönen Hubert geworfen. Vielleicht wollte sie sogar mehr als nur eine Brieffreundschaft. Johanna konnte es ihr nicht verdenken. Immerhin war Frieda schon viele Jahre geschieden und hatte seitdem keine feste Beziehung mehr. Da lag es nahe, sich so ein "Sahnetörtchen" zu sichern – wie Frieda es selbst formuliert hätte.
Johanna hingegen war verheiratet. Mit Karl. Kein Sahnetörtchen, eher ein gemütlicher Teddybär. Das störte sie nicht, im Gegenteil. Sie mochte seinen Bauch, den er sich über die Jahre angefuttert hatte. Aber gekuschelt wurde längst nicht mehr. Die einzigen Berührungen waren flüchtige Begrüßungsküsse und das übliche "Gute Nacht". Mehr nicht.
Wie wäre es, mit Hubert im Bett zu landen? Diese Frage kam Johanna plötzlich in den Sinn. Er wusste sicher, was Frauen wollten. Schließlich hatte er kaum eine Gelegenheit ausgelassen, das zu trainieren. Und seltsam: Sie empfand dabei überhaupt kein schlechtes Gewissen. Karl hätte es wohl nicht einmal bemerkt, wenn sie nackt durchs Haus getanzt wäre. Und falls doch, hätte er sie ermahnt, sich etwas anzuziehen, um nicht krank zu werden.
Johanna trat aus der Dusche, trocknete sich ab und betrachtete ihr Spiegelbild. Für ihr Alter war sie durchaus zufrieden: schlank, kaum Falten, trotz null Sport erstaunlich straff. Ob Hubert wohl große Brüste bevorzugte? Vermutlich hatte er ohnehin alle Varianten ausprobiert und wusste mit jeder umzugehen.
Sie schloss die Augen und ließ ihre Gedanken schweifen. In ihrer Vorstellung waren es plötzlich nicht mehr ihre eigenen Hände, die über ihren Körper strichen. Nein – in ihrer Fantasie gehörten sie Hubert. Kräftig, sicher, vertraut. Sie stellte sich vor, wie er ihre Arme massierte, ihre Finger ergriff, sie ineinander verschränkte und wieder löste – ein kleiner Tango, der nur in ihrem Kopf tanzte. In Gedanken wanderten seine Berührungen über ihren Bauch, hinauf zu ihren Brüsten, dann zu Nacken und Hals. Warm, selbstbewusst, voller Leidenschaft.
"Johanna …" flüsterte eine Stimme.
Sie lächelte benommen.
"Johanna?" wiederholte die Stimme – diesmal deutlicher.
Erschrocken öffnete sie die Augen. Im Spiegel stand Karl hinter ihr.
"Bist du verspannt? Soll ich dich massieren?" fragte er mit seiner ruhigen, alltäglichen Stimme.
Johanna nickte. Ja, sie war verspannt. Und ja, sie brauchte genau das jetzt.
Seine Hände legten sich auf ihre Schultern, wanderten sanft über ihren Rücken. Er konnte es noch, dachte sie überrascht. Mit jeder Bewegung lockerte er die Verkrampfungen, die das warme Wasser nicht hatte lösen können.
Sie atmete tief durch, während ihre Gedanken langsam zur Ruhe kamen. Vielleicht war es am Ende gar nicht so wichtig, wessen Hände sie gerade spürte – Hauptsache, sie spürte wieder etwas.
"Danke, Karli", flüsterte sie leise.
Kapitel 19 | Der alten Zeiten wegen
Johanna hatte sich nach dieser unerwarteten Massage auf die Couch gelegt. Jetzt musste sie erst einmal runterkommen – und zwar alleine. Zur Tarnung hielt sie eins ihrer Bücher in der Hand. Doch die Augen glitten immer wieder über die Buchstaben hinweg, ohne dass sie auch nur ein Wort aufnahm. Viel zu sehr hallte nach, was soeben passiert war.
War das wirklich Karl gewesen, der sie eben so zärtlich berührt hatte? Ihr Karl, der sonst so in seiner Arbeit versank, als gäbe es nichts anderes? Es war fast unheimlich. Und doch – schön. So schön, dass sie sich wünschte, er hätte nie aufgehört. Wie lange hatte sie diese Nähe schon vermisst?
Aber kaum hatte sie sich diesen Gedanken erlaubt, mischte sich wieder diese lästige innere Stimme ein – streng, unerbittlich:
"Hattest du nicht gerade erotische Fantasien mit Hubert? Und jetzt willst du mit deinem Mann weitermachen? Schäme dich!"
Johanna kniff die Augen zusammen. Ja, die Stimme hatte recht. Da war noch ein zweiter Mann in ihrem Kopf – gefährlich nah, zu nah. Das musste aufhören. Am besten, sie stellte sich Hubert ein einziges Mal persönlich – um dann diesen verheißungsvollen, aber brandgefährlichen Tanz zu beenden. Ein Treffen, nur eins. Einmal zurück in den Park hinterm Pavillon, wo alles angefangen hatte. Ein stilles Wiedersehen – der alten Zeiten wegen.
Noch während sie sich das vorsagte, spürte sie, wie ihr Herz schneller schlug. Warum war ihr das plötzlich so wichtig? Wovor lief sie wirklich weg – oder wem lief sie entgegen?
Da betrat Karl das Wohnzimmer. Er hielt etwas in der Hand.
"Du, Johanna – der ist anscheinend für dich."
Er streckte ihr einen Brief entgegen. "Der lag direkt vor der Haustür."
Johanna erstarrte. Ein Brief. Ohne Umschweife, ohne Umwege, direkt vor ihrer Tür. Keine Briefmarke. Kein Stempel. Jemand hatte ihn eigenhändig gebracht – mitten in der Nacht, heimlich, still, wie ein Schatten.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Dieses Spiel nahm groteske Züge an. Und doch, es prickelte, als hätte jemand ihre Nerven an eine unsichtbare Stromquelle angeschlossen.
"Danke, Karli", murmelte sie.
Noch ehe er etwas erwidern konnte, raffte sie sich auf, den Brief fest an die Brust gedrückt. "Du, Karl, ich muss noch einmal schnell weg!"
Und ohne zu überlegen, ohne den Plan zu Ende gedacht zu haben, riss sie die Haustür auf und verschwand in die Nacht.
Kapitel 20 | Jetzt muss es schnell gehen
So hatte Karl seine Frau in all den Jahren noch nicht erlebt. Kaum hatte er ihr den Brief überreicht, lag ein Ausdruck in ihrem Gesicht, den er nicht deuten konnte – fremd, geheimnisvoll, unruhig.
Frauen waren für ihn ohnehin schon schwer zu verstehen. Aber seine Johanna entpuppte sich in diesem Moment vollends zu einem Rätsel. Mehr noch: zu einem Gordischen Knoten, den er mit all seiner Logik nicht zu entwirren vermochte.
Seine ursprüngliche Idee war doch so einfach gewesen – eine kleine Liebes-Schnitzeljagd, um frischen Wind in ihre Ehe zu bringen. Doch was hatte er jetzt? Statt eines Spiels, das sie zusammenführen sollte, stand er plötzlich vor einem Rätsel, das ihn selbst überstieg.
Warum musste Johanna so plötzlich fort? Ohne Erklärung. Ohne ein einziges Wort. Ohne Abschiedskuss. Und gerade das machte ihn stutzig. In all den Jahren hatten sie sich zumindest immer gesagt, wo sie hingingen. Diesmal – nichts.
"Da stimmt etwas nicht", murmelte er.
Karl spürte, wie es in ihm brannte. Wenn sie jetzt ging, musste er hinterher. Sofort. Ohne Überlegen. Er warf die Hausschuhe in die Ecke, stolperte in seine Lederschuhe, die noch im Gang standen, und stürmte zur Tür. Keine Krawatte, kein Seitenscheitel, nichts zurechtgerichtet – so wie er war, rannte er Johanna hinterher.
Kapitel 21 | Eine Verfolgungsjagd
Ohne konkretes Ziel war sie unterwegs. Johanna wollte nur eines: weg von zu Hause. Weg von Karl. Sie durfte diesen Brief nicht in seiner Nähe öffnen – nicht jetzt, wo in ihrer Ehe gerade erst ein kleiner Funken Hoffnung aufgeglommen war. Ein Funken, der vielleicht noch kein Feuer der Leidenschaft entfachen konnte, aber immerhin für ein Candle-Light-Dinner hätte reichen können. Doch bevor sie daran überhaupt denken konnte, musste sie die Sache mit Hubert klären.
Ein paar Häuserblocks weiter stellte sie den Wagen ab. Mit zittrigen Fingern zog sie das gefährliche Beweisstück hervor.
Liebe Johanna,
Du sollst wissen, dass es da draußen in der großen, weiten Welt sicher viele Menschen gibt, die dich richtig gerne haben. Einer davon bin ich. Ich will dir mit diesen Zeilen sagen: Schön, dass es dich gibt!
Ich wünsche uns alles Gute auf unserem weiteren gemeinsamen Lebensweg!
"Gemeinsamer Lebensweg?"
Sie las die Stelle erneut. Langsam, Wort für Wort. Das war mehr als nur ein Brief - das war eine Botschaft. Und die war eindeutig. Ihr wurde heiß. Meinte er das wirklich ernst? Stellte er sich ein Leben mit ihr vor?
Sie kratzte sich nervös am Kopf. Hier war Feuer am Dach. Ein Treffen war unausweichlich. Ohne weiter nachzudenken, zückte Johanna Stift und Papier. Rasch kritzelte sie ein paar unmissverständliche Worte darauf.
Dann trat sie aufs Gas. Dieses Mal würde sie selbst zum Kurier werden. Kein Postbote, kein geheimnisvoller Zusteller – sie selbst. Direkt vor die Tür. Sie stellte den Wagen ab, schlich sich zur Wohnung, legte den Brief auf die Fußmatte und drückte auf die Klingel. Dann lief sie davon – so schnell sie konnte, das Herz bis zum Hals.
Johanna kauerte in ihrem Versteck, den Atem flach, als fürchte sie, selbst das leiseste Geräusch könnte sie verraten. Ihr Herz pochte bis in die Fingerspitzen, und sie zwang sich, stillzuhalten.
Heraus kam Hubert. Kein selbstsicheres Lächeln lag auf seinen Lippen, sondern ein suchender Ausdruck. Er hielt den Brief in der Hand, starrte darauf, dann wieder in die Umgebung, als ob er die Zeilen noch nicht fassen konnte. Hoffnung huschte über sein Gesicht, die Hoffnung, dass dies vielleicht von Helga stammte – ein dritter Brief, der die vorherigen bestätigte, ein Zeichen, dass da wirklich mehr war als bloße Einbildung. Seine Augen suchten die Straße ab, nicht ahnend, dass Johanna ihn im Verborgenen beobachtete.
Ein paar Meter entfernt, im Auto, saß Karl. Er drückte die Hände so fest um das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sein Herz raste. Hubert? Ein Brief? Von Johanna! Seiner geliebten Johanna? Er konnte es nicht fassen. Es legte sich sofort ein schwerer Knoten in seine Brust. Misstrauen, Eifersucht, aber auch Angst, hier etwas zu sehen, das er nie wieder aus seinem Kopf bekommen würde.
So verharrten sie alle drei in diesem Moment – Johanna, Hubert, Karl - mit drei Herzen, die viel zu laut schlugen.
Kapitel 22 | Der erste Kuss
Lieber Rosenkavalier, treffen wir uns bitte heute Abend um acht Uhr an dem Ort des ersten Kusses.
Hubert las die Worte immer wieder, bis sie sich in sein Gehirn eingebrannt hatten. Sein Herz pochte, als hätte jemand den Takt auf ein Trommelset gelegt. Damit hatte er nicht gerechnet – schon gar nicht so bald.
"Rosenkavalier", flüsterte er entzückt. Allein dieses Wort! Es schmeichelte ihm, als wäre es ein Orden, den man sich an die Brust heftet. Helga hatte ihn durchschaut. Natürlich! Wer sonst hätte das Rosenmeer in ihrem Garten anlegen können? Vielleicht hatte sie ihn sogar heimlich dabei beobachtet. Das wäre noch besser. So brauchte er sich nicht länger erklären – die Blumen sprachen für ihn.
"Jetzt muss sie doch endlich merken, was für ein Mann ich bin", dachte Hubert. "Und Boris, dieser Möchtegern-Tennisspieler, wird alt aussehen!"
Ein Bild breitete sich in seinem Kopf aus: Helga, die ihm mit leuchtenden Augen entgegenläuft, ihm verzeiht und Boris endgültig in die Wüste schickt. Vielleicht, ja vielleicht, würde sie sogar über Huberts kleine Eskapaden hinwegsehen. Schließlich war er ja nicht umsonst der Rosenkavalier.
Er blickte auf die Uhr. Genug Zeit. Duschen, rasieren – unbedingt! Der Friseur war nicht mehr zu schaffen, aber beim Floristen musste er vorbeischauen. Rosen zum Rosenkavalier, das war doch Pflicht. Und vielleicht noch ein kleines Extra – eine Flasche Sekt? Nein, das wirkte zu aufdringlich. Ein Gedichtband? Nein, das war nicht seine Stärke.
"Rosen", murmelte er entschlossen. "Die Sprache der Liebe braucht keine Fußnoten."
Und während er das Haus verließ, mit dem festen Entschluss, Helga zurückzuerobern, summte er leise vor sich hin – als stünde er selbst schon im Pavillon und würde den ersten Kuss erneut erleben.
Kapitel 23 | Im Park hinterm Pavillon
Die Kirchenglocken schlugen achtmal. Karl hatte jeden einzelnen Schlag gezählt. In seinem Versteck, halb verborgen hinter einer dichten Hecke, hockte er unbequem, aber mit guter Sicht auf das Zielobjekt: Johanna.
Da saß sie – auf einer Parkbank, alleine, den Blick suchend in die Ferne gerichtet. Auf jemanden wartend.
Ein ungewohntes, nagendes Gefühl stieg in Karl auf. Erst konnte er es nicht benennen, dann traf es ihn wie ein Schlag: Eifersucht.
Er hatte nie verstanden, warum Männer davon berichteten. Eifersucht erschien ihm unlogisch. Wenn man verheiratet war, war Treue definiert – Punkt. Was gab es da zu zweifeln? Und doch nagte jetzt dieser Zweifel an ihm. Johanna, seine Johanna, wartete auf jemanden.
Er rutschte unruhig hin und her. Der Boden drückte, seine Knie knackten, und Muskeln meldeten sich schmerzhaft, von denen er bisher kaum Notiz genommen hatte. Doch all das nahm er in Kauf – solange sich seine Angst am Ende als grundlos herausstellen würde. Mit jeder Minute, in der Johanna allein blieb, keimte Hoffnung auf. Vielleicht wartete sie nur auf ihn? Vielleicht täuschte er sich? Vielleicht würde er sogar heute Abend noch eine Massage von ihr bekommen.
Dann erstarrte er.
Da kam jemand.
Und nicht irgendwer.
"Nein…", flüsterte Karl.
Es war Hubert. Der schöne Hubert, dieser berüchtigte Schürzenjäger. Und er trug einen Strauß Rosen bei sich. Und damit ging er direkt auf Johanna zu.
Karl spürte, wie sein Blutdruck explodierte. Seine Finger krampften, sein Herz hämmerte, der Atem ging stoßweise. Ein Teil in ihm wollte aufspringen, losschreien, Hubert mit einem Faustschlag ein für alle Mal in die Schranken weisen. Doch ein anderer Teil – der nüchterne, kontrollierte Karl – hielt ihn zurück.
Leise, wie ein geschlagener Hund, zog er sich aus seinem Versteck zurück.
Er konnte nicht länger zusehen.
Kapitel 23 | Na, dann viel Glück
Johanna hatte nun schon eine gefühlte Ewigkeit gewartet. Gerade wollte sie aufstehen und den Heimweg antreten, als er kam. Hubert.
Obwohl sie sich vorgenommen hatte, die Begegnung nüchtern und emotionslos zu gestalten, kribbelte es ihr plötzlich im Bauch. Nervosität. Hubert trat mit einem übertrieben strahlenden Lächeln auf sie zu und hielt ihr einen riesigen Strauß roter Rosen entgegen.
"Hallo Johanna! Ich hab Blumen für dich!"
Johanna straffte sich, bemühte sich um einen festen Tonfall.
"Danke… aber ich bin verheiratet!"
Huberts Lächeln gefror.
"Na, dann viel Glück!"
Er drehte sich auf dem Absatz um, beleidigt, fast trotzig. Mit einer lässigen Handbewegung schleuderte er die Rosen achtlos über seine Schulter.
Der Strauß flog in hohem Bogen durch die Luft – und landete, wie vom Schicksal gesteuert, punktgenau in Johannas Händen.
Verdutzt blickte sie erst auf die Rosen, dann dem davonstürmenden Hubert hinterher.
Ein Treffen, das er sich wohl gänzlich anders vorgestellt hatte.
Kapitel 24 | Ein mieser Regisseur
Hubert hatte sich das Treffen mit seiner geliebten Helga ganz anders ausgemalt. Definitiv. In seiner Fantasie war kein Platz für Nebendarsteller, geschweige denn für unerwünschte Statisten. Er wollte allein mit ihr auf der Parkbank hinterm Pavillon sitzen – ungestört, vertraut, nostalgisch.
In seinem perfekten Drehbuch stand nichts davon, dass sich plötzlich eine fremde Frau diese Bank aneignen würde. Verärgert spulte Hubert den Film in seinem Kopf zurück.
Pünktlich um acht Uhr erscheint der Rosenkavalier am Set. Top gestylt, frisch rasiert, mit den richtigen Requisiten – einem Strauß roter Rosen. Die Kamera läuft, das Licht ist perfekt: sanftes Abendrot, Grillen sorgen für authentische Hintergrundmusik. Ein Drehort wie aus dem Bilderbuch. Alles wartet auf das Kommando: "Und… Action!"
Doch das Kommando kommt nicht. Die Hauptdarstellerin fehlt. Stattdessen sitzt eine Statistin stoisch auf der Bank und weigert sich, den Platz zu räumen. Wo bleibt Helga? Warum greift der Regisseur – dieses miese Schicksal – nicht ein?
In Hubert kochte es. Ohne Hauptdarstellerin war kein Happy End möglich. Kein Kuss, kein Abspann mit romantischer Musik. Nur ein abgebrochener Film, direkt aus der Kategorie "billiges Vorabendprogramm".
Warum war Helga nicht gekommen? War ihr etwas zugestoßen? Oder wollte sie ihn bewusst hinhalten?
Je länger er auf der Bank stand, desto deutlicher glaubte Hubert die Antwort zu kennen. Es war Absicht. Pure, kalte Berechnung.
Vielleicht reichte ihr das Haus nicht, vielleicht auch nicht der neue Mercedes, die Kinder, der Tennislehrer – nein, das genügte alles noch lange nicht. Anscheinend wollte Helga jetzt auch noch die letzte Bastion seiner Würde niederreißen. Ihn vorführen wie einen dummen Schulbuben, der hoffnungsvoll auf dem Pausenhof wartet und doch nie den ersehnten Zettel von seiner Angebeteten bekommt.
Ja, das musste es sein! Sie hatte sich nicht nur gegen ihn entschieden, sondern gleich einen Schritt weiter gedacht: ihn öffentlich zu demütigen. Ihn warten zu lassen, bis er schwitzte, nervös auf die Uhr starrte, mit den Rosen in der Hand dastand wie ein Clown in einer schlechten Operette. Und das alles, damit er sich schlussendlich wie der letzte Depp vorkam.
Je länger Hubert darüber nachdachte, desto klarer schien es: Helga war keine Frau, sondern eine Regisseurin der Grausamkeit. Jede Szene sorgfältig geplant, jedes Detail durchkomponiert – und er, Hubert, der Rosenkavalier, spielte nur die Rolle des Trottels im Stück. Ein Mann, der sich voller Sehnsucht auf ein Wiedersehen freute und stattdessen vor aller Welt zum Gespött gemacht wurde.
In wenigen Minuten verwandelte sich in seinem Kopf die einst geliebte Helga von der Traumfrau in die Hauptdarstellerin eines Rache-Dramas. Eine Frau, die nicht nur genommen hatte, was es zu nehmen gab – Haus, Auto, Kinder, Tennislehrer – sondern nun auch noch sein Herz und seine Selbstachtung mit Füßen trat.
Gleichzeitig sah er noch einmal genauer zu der Dame, die auf der Parkbank nun schon länger saß. War das Johanna? Natürlich war sie das. Wie konnte er sie nur übersehen? Und ja – jetzt fiel es ihm wieder ein: sie hatten sich tatsächlich schon einmal geküsst, damals, in einer jener launigen Nächte voller Leichtsinn und zu viel Sekt. Ein Kuss, der ihm plötzlich wie eine Eintrittskarte in eine längst vergessene Welt erschien.
Da kam ihm eine rettende Idee. Wenn Helga ihn schon so schmählich im Stich ließ, dann konnte er doch immer noch aus der Situation das Beste machen. Johanna war schließlich keine Unbekannte. Vielleicht, so malte er sich in Sekundenschnelle aus, könnte der heutige Abend eine ganz neue Wendung nehmen. Ein kleiner Flirt, ein Gläschen Wein, ein bisschen Nähe – warum nicht?
In Huberts Kopf ploppte sofort ein ganzer Film hoch: Johanna würde ihn einladen, vielleicht schauten sie gemeinsam eine romantische Serie, saßen Schulter an Schulter auf ihrer Couch, lachten über belanglose Witze, bis irgendwann die Hände wie zufällig zueinanderfanden. Von da an war der Weg nicht mehr weit zu einem Kuss, zu einem Streicheln, vielleicht ... Sein Hirn malte sich schon die schönsten Bilder aus.
Ja, das würde sein ramponiertes Männerego im Handumdrehen wieder aufpolieren. Von einer Frau so eiskalt abgewiesen zu werden, tat weh – aber von einer anderen, attraktiven Frau am selben Abend getröstet zu werden, das war beinahe schon eine Punktlandung. Wenn schon kein Happy End mit Helga, dann vielleicht wenigstens ein "kuscheliges Zwischenspiel" mit Johanna.
Da hatte er sich aber gewaltig getäuscht. Nachdem Hubert eine Weile grübelnd im Schatten gestanden war, raffte er sich schließlich auf. Mit einem Ruck erhob er sich von der Parkbankkante, strich sich die Hose glatt und nahm den Rosenstrauß wieder fest in die Hand. Mutigen Schrittes ging er auf Johanna zu. Sein Lächeln war einstudiert, seine Haltung aufrecht – so, als würde er auf eine Bühne treten.
"Voilà, die rettende Hauptrolle", murmelte er in sich hinein, während er ihr die Blumen entgegenstreckte. Doch noch ehe er sein charmantes Schauspiel richtig beginnen konnte, hatte Johanna ihm sogleich einen Korb gegeben. Er konnte sich nicht erinnern, jemals eine so eiskalte Abfuhr erhalten zu haben.
Innerhalb so kurzer Zeit wurde ihm von zwei Frauen die kalte Schulter gezeigt. Das tat weh. Das ganze Leben, so schien es, hatte sich gegen ihn verschworen.
Kapitel 25 | Vodka oder Frieda
Dieses Verlangen kannte er bis dato nicht. Am liebsten wollte sich Karl nun betrinken. Einfach alles vergessen, den Schmerz hinunterspülen, die Bilder aus dem Park, die sich unauslöschlich in seinem Kopf eingebrannt hatten. Es war durchaus verlockend – eine ganze Flasche Vodka, klirrend kalt aus dem Gefrierfach, und er würde vielleicht für ein paar Stunden Ruhe haben.
Doch kaum hatte er diesen Gedanken weitergesponnen, meldete sich eine Stimme der Vernunft. So war er nicht. Er war keiner, der sich hemmungslos in den Alkohol stürzte. Eine andere Möglichkeit musste her. Jemand, der verstand. Jemand, der ihm zuhören konnte.
Seine männlichen Freunde? Unmöglich – die würden höchstens dumme Sprüche reißen oder ihn mit halbherzigen Ratschlägen abspeisen. Jonathan? Nein, das war tabu. Seinem Sohn konnte er unmöglich sein gebrochenes Herz offenbaren.
Aber Frieda? Ja, Frieda war anders. Mit ihr konnte man reden. Vielleicht wusste sie sogar schon länger von der ganzen Geschichte mit Hubert und Johanna – vielleicht hatte sie längst Dinge bemerkt, die er übersehen hatte. Und wenn jemand einen wertvollen Rat parat hatte, wie man als Ehemann mit einer solchen Situation umgehen sollte, dann war es Frieda.
Vodka oder Frieda? – die Frage stellte er sich noch einmal. Dann atmete er tief durch und entschied sich für die vernünftigere Variante.
"Hallo Frieda! Hast du kurz Zeit? Ich würde gerne etwas mit dir besprechen!"
"Ja, du kannst gerne vorbeikommen. Nimm Hunger mit. Ich habe gerade einen Kuchen ins Rohr geschoben."
Kapitel 26 | Einmal Ego aufpolieren, bitte
Wie sollte Hubert nun weiter vorgehen? Nachdem sich der größte Groll gelegt hatte, dachte er nüchtern über die nächsten Schritte nach. Am vernünftigsten wäre es wohl, Gras über die Sache wachsen zu lassen. Helga hatte sich entschieden – und zwar nicht für ihn. Mit der Zeit würde er das schon akzeptieren. Und es gab ja wirklich noch genügend andere Frauen da draußen.
Doch wenn er ehrlich war, konnte er sich das selbst nicht einreden. Helga war die Liebe seines Lebens, und diese wollte er nicht kampflos aus den Händen geben. Jedes Mal, wenn er ihre lachenden Augen vor sich sah, stach es ihn ins Herz. Und jedes Mal, wenn er an Boris dachte, wurde aus dem Stich ein Schlag in die Magengrube.
Allein schon dieser selbstgefällige Grinser! Dieses Gesicht, das ihn jedes Mal empfing, wenn er die Kinder abholte. Boris stand da, als wolle er sagen: "Schau her, Hubert – die Trophäe gehört jetzt mir." Hubert konnte das Grinsen förmlich hören, wie es ihn verspottete. Nein, das war noch nicht das letzte Wort gewesen. Dieses Spiel war noch lange nicht vorbei. Aufgeben – so sagte er sich trotzig – würde man höchstens bei einem Brief, aber niemals bei seiner Frau.
Dennoch, seine gekränkte Männerehre schrie nach einer schnellen Reparatur. Ein Pflaster fürs Ego, und zwar noch heute. Der Plan formte sich einfach und schmerzhaft klar in seinem Kopf: Er brauchte eine Frau. Einen Kuss oder etwas mehr. Irgendetwas, das ihm zeigte, dass er noch nicht zum alten Eisen gehörte.
Natürlich: Frieda. Das war in den letzten Jahren öfters schon mal ein schönes, erotisches Pflaster, wenn er Streit mit seiner Helga hatte. Frieda lebte schon seit vielen Jahren allein – und sie hatte diese wunderbar einfache Hippie-Philosophie: Make Love, not War - und das so oft als möglich. Diese Philosphie hatten sie in den letzten Jahren schon öfters miteinander geteilt.
Außerdem – so dachte er und ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht – schätzte er ihre Backkünste. So würde er heute nicht nur Friedas Kuchen, sondern auch die Kuchenbäckerin selbst vernaschen. In welcher Reihenfolge, das ließ er offen. Hauptsache, er ging nicht allein ins Bett.
Kapitel 27 | Karl?
Für Johanna war es nun klar, wie sie weiter vorgehen wollte. Nachdem sie die Sache im Park mit Hubert für sich abgehakt hatte, war sie auf dem Nachhauseweg zu Karl. Sie wollte ihrem Mann etwas zurückgeben, dankbar und liebevoll. In Gedanken stellte sie sich vor, wie sie ihn mit einer zärtlichen Massage überraschen würde. Vielleicht, so malte sie es sich heimlich aus, würde dieses Vorspiel sogar weitergehen. Vielleicht würde es ein langsames, verführerisches Spiel werden, das wieder einmal im gemeinsamen Ehebett enden könnte. Vielleicht würden sie sogar wieder einmal miteinander und nicht nur - wie seit geraumer Zeit - nebeneinander schlafen.
Doch zugleich rumorte etwas in ihrer Bauchgegend. Ein Gefühl, das sie nicht einordnen konnte – ein leichtes Ziehen, als ob eine unsichtbare Hand sie warnen wollte.
Der Grund für dieses Bauchgefühl offenbarte sich, als sie die Tür öffnete. Karl war nicht da. Einfach weg. Ohne eine Nachricht, ohne ein Wort. In all den Jahrzehnten ihres Ehelebens war das noch nie vorgekommen. Nie. Es gehörte zu ihrem stillschweigenden Gesetz, dass man einander Bescheid gab, wenn man das Haus verließ. Dazu kam die zweite Regel, die noch viel bedeutender war: der Abschiedskuss. Er hatte ihn ihr nicht gegeben.
Johanna ließ sich unsicher auf die Couch sinken. Verärgert und beunruhigt zugleich griff sie zu einem Buch, das sie schon lange auf dem Nachtkästchen liegen hatte: "Frauen und Männer sind unterschiedlich – sowohl als auch". Der Titel passte zu ihrer Stimmung. Während sie die ersten Seiten las, fiel ihr ein bitterer Gedanke auf: Sie selbst war ja auch ohne ein Wort davon gelaufen. Hatte Karl das vielleicht als Kränkung empfunden? Hatte er es ihr heimgezahlt?
Sie griff zum Handy, wählte seine Nummer. Nur die unpersönliche Stimme der Mobilbox meldete sich. Kein Karl. Kein Lebenszeichen. Mit wachsender Nervosität suchte sie nach einer anderen Möglichkeit. Frieda. Mit ihr konnte man über alles reden. Doch auch dort meldete sich nur eine elektronische Stimme.
Johanna atmete tief durch und schrieb schließlich eine kurze SMS:
"Hallo Frieda. Wir müssen reden. Es geht um Karl."
Gebannt starrte sie auf das Display. Sekunden dehnten sich zu Minuten, Minuten zu einer gefühlten Ewigkeit. Aber weder von Frieda noch von Karl kam eine Antwort.
Unruhig legte sie sich ins Ehebett. Sie wälzte sich von einer Seite zur anderen. Der Platz neben ihr blieb leer. Und während sie in die Dunkelheit starrte, spürte sie schmerzlich, wie lange es her war, dass sie keinen Gute-Nacht-Kuss mehr bekommen hatte.
Kapitel 28 | Verpasste Signale
Das Handy auf dem Tisch vibrierte los. Karl zuckte zusammen, starrte aufs Display. Johanna.
Frieda legte den Kopf schief, ein Stück Kuchen noch in der Hand. "Na los, heb ab. Das ist doch deine Frau."
Karl griff nach dem Glas, kippte das zweite Stamperl hinunter. "Nein." Seine Stimme war brüchig, gleichzeitig trotzig. "Ich … ich wüsste gar nicht, was ich sagen soll. Der Schmerz sitzt zu tief. Soll ich heulen? Oder brüllen? Oder einfach schweigen? Das bringt doch nix."
Frieda schob die Unterlippe vor. "Du musst gar nix sagen. Es ist Johanna, die dich anruft. Offenbar hat sie dir was zu sagen."
Karl lachte kurz, bitter, fahrig. "Dann soll sie's halt später sagen. Ich … ich will erst meine Gedanken ordnen." Er erhob sich, unsicher auf den Beinen. "Vielleicht sortieren sich die Gedanken am Klo besser." Mit einem wirren Grinsen verschwand er Richtung Badezimmer.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, erklang ein zweites Summen. Diesmal war es Friedas Handy.
Sie griff danach – eine SMS.
"Hallo Frieda. Wir müssen reden. Es geht um Karl."
Frieda sog scharf Luft ein, starrte auf die Worte. "Ui." Sie stellte das Handy neben den Kuchen, schob sich langsam ein Stück in den Mund. Ihre Gedanken wirbelten: Der amre Karl ... bis gestern war seine Ehe noch vollkommen intakt. Und jetzt? Vielleicht sitzt Johanna jetzt beim schönen Hubert auf der Couch. Und noch schlimmer. Sie sitzt nicht mehr, sondern liegt schon.
Dann ist es für heute vielleicht meine Aufgabe Karl zu trösten. Ein kurzes Hippie-Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ein bisschen "Medizin" wird ihm sicherlich noch gut tun.
Sie schüttelte den Kopf, grinste über sich selbst. "Nein, Frieda. Du bleibst die loyale Freundin."
Doch anrufen? Antworten? Sie sah zur geschlossenen Badezimmertür, dann auf die glänzende Glasur des Kuchens.
Manchmal verschiebt man Dinge nicht aus Feigheit, sondern weil Schokolade Vorrang hat.
Frieda schnitt sich ein weiteres Stück ab – und ließ Johannas SMS unbeantwortet.
Kapitel 29 | Fremde Fenster
Hubert bog um die Ecke und blieb abrupt stehen. Ein vertrauter Duft hing in der Luft – frisch gebackener Kuchen. Er sog tief ein, beinahe genießerisch. Frieda, dachte er sofort. Ihre Mehlspeisen waren berüchtigt. Nichts im ganzen Viertel roch so nach Vanille, Zimt und einer Spur Lebenslust wie ihre Küche.
Er folgte dem Geruch wie ein Spürhund, näher an das Haus heran. Doch dann stockte er. Durch das halb geöffnete Fenster sah er nicht, wie er erwartet hatte, Frieda – sondern Karl. Karl, der auf ihrem Stuhl saß, den Kuchen vor sich.
Huberts Gesicht verzog sich. Ein stechendes Gefühl fuhr durch ihn – erst Unglauben, dann Wut. Am liebsten hätte er die Tür aufgerissen, Karl am Kragen gepackt und ihm eine gescheuert. Aber er blieb stehen, die Fäuste in den Taschen, atmete schwer.
Nein, Hubert. Nicht schon wieder ein Frust. Fahr heim. Lass es.
Er drehte sich abrupt um und stapfte zurück zum Auto.
Auf dem Heimweg fluteten Erinnerungen in seinen Kopf. Frieda … wie oft hatte sie ihn mit einem Blech Kuchen verführt. Erst ein Stück Mohnstrudel, dann ein Stück von ihr. Mal in dieser Reihenfolge, mal umgekehrt. Einmal – vielleicht auch zweimal oder dreimal – hatten sie das eine mit dem anderen kombiniert, Erotik und Kulinarik zu einem verwegenen Rezept verrührt.
Er musste grinsen, fast widerwillig. Frieda war eben ein Zuckertörtchen – süß, unberechenbar, manchmal klebrig. Und jetzt saß Karl bei ihr, aß vermutlich den gleichen Kuchen, den gleichen Blick, das gleiche Lächeln.
Sein Grinsen gefror. Karl, dieser Ehebrecher! Verheiratet, brav nach außen, und dann das. Hubert schüttelte den Kopf. Unfassbar. Armselig. Verräterisch.
Dass er selbst über Jahre hinweg ein Schlawiner gewesen war – das blendete er in diesem Moment aus. Er warf den moralischen Stein, als hätte er nie selbst im Glashaus gesessen.
Hubert trat aufs Gas. Noch immer hing der Duft von Friedas Kuchen in seiner Nase – süß, verführerisch, gnadenlos.
Kapitel 30 | Am Boden zerstört
"Hallo Jonathan."
"Hallo Mama."
"Hab ich Dich hoffentlich nicht geweckt?"
"Nein, nein ... kein Problem ... Was gibt es?"
"Ich hab ein eigenartiges SMS voon Papa bekommen. Muss ich mir Sorgen um euch machen?"
"Nein, ja, vielleicht ... ähm ... was schreibt Dein Vater?"
Jonathan las stockend vor:
"Falls Mama fragt, wo ich bin: Ich bin bei Frieda. Und falls du dich gerade fragst 'Warum?' … ich weiß es auch nicht."
"Was?"
Ihre eigene Stimme erschreckte sie so sehr, dass sie das Handy fallen ließ. Es krachte auf die Fliesen, das Display splitterte, und in dem Moment war es, als würde ihr ganzes Leben in tausend Scherben zerfallen.
Johanna stand regungslos da. Der Schreck, die Wut, die Verzweiflung – alles stürzte auf sie ein. Vor ihr lag das zerbrochene Handy, und in ihrem Inneren fühlte es sich genauso an: zerbrochen, am Boden, zerstört.
War das nur ein Missverständnis? Oder war dies das Sinnbild für ihre Ehe? Jahrzehntelang hatte sie an Beständigkeit geglaubt, an Treue, an das ungeschriebene Gesetz ihres Zusammenseins. Und nun das.
Mit zitternden Händen bückte sie sich, sammelte die Scherben auf. Ein Teil von ihr wollte einfach nur die Scherben aufkehren, so wie immer, wenn etwas kaputtging. Doch in ihr wuchs die schmerzliche Frage:
Lässt sich auch ihre Ehe noch zusammenkehren – oder war dies der endgültige Bruch?
Kapitel 31 | Eine traumhafte Begegnung
In dieser Nacht fand Johanna keinen Schlaf. Sie wälzte sich hin und her, die Decke war zu schwer, das Bett zu leer. Viel zu viel Platz neben ihr – dort, wo sonst Karl lag. Ihr Karli. Karli ... das war einmal. Sie presste das Kissen an sich, als könnte es die Lücke füllen. Doch nichts füllte die Leere. Irgendwann übermannte sie die Erschöpfung, und sie fiel in einen tiefen, unruhigen Traum.
Da stand Hubert. Im Traum wirkte er noch größer, ... noch stattlicher. Seine Augen funkelten. In seiner Hand eine rote Rose, frisch, voller Duft. Er lächelte, sanft und doch mit einer Spur von Verlangen.
"Für dich, Johanna." Seine Stimme war warm, schmeichelnd.
Sie zögerte, blickte auf die Rose, dann in sein Gesicht. Ein Kribbeln lief über ihre Haut, fast schuldbewusst – und doch ließ sie sich die Blume schenken. Ihre Finger strichen über die samtigen Blütenblätter, als wären sie weicher als alles, was sie je berührt hatte.
Ein Hauch von Nähe. Sein Atem streifte ihre Wange. Sie hörte sich selbst kichern, unsicher, fast mädchenhaft. "Hubert …" flüsterte sie.
Dann spürte sie seine Hand auf ihrer – warm, fordernd, zu nah. Für einen Augenblick ließ sie es geschehen, ließ die Illusion zu: eine andere Schulter, eine andere Nähe, eine andere Wärme.
Doch plötzlich verdunkelte sich das Bild. Hinter Hubert tauchte ein Schatten auf. Karls Gesicht. Traurig. Verletzt. Stumm.
Johanna riss die Augen auf. Schweißperlen auf ihrer Stirn. Der Traum zerfiel, doch die Bilder brannten sich in ihr Herz. Sie zog die Decke über sich und starrte ins Dunkel.
Kapitel 32 | Pause
Johanna saß am Küchentisch. Der Stuhl gegenüber blieb leer, die Stille um sie herum war beinahe erdrückend. Kein Karl. Kein Klappern von Besteck. Kein vertrautes "Guten Morgen". Nur das Ticken der Wanduhr, das mit jeder Sekunde lauter zu werden schien. Der Teller vor ihr blieb unberührt – ihr Magen war so voll mit schweren Gedanken, dass für Essen kein Platz war.
Sie zog ein Blatt Papier heran, nahm den Stift in die Hand. Worte, die im Kopf wirr umeinanderstürmten, wollten sortiert werden.
Eigentlich, dachte sie bitter, hätte Karl es verdient, dass sie einfach wortlos verschwand. So, wie er sie verletzt hatte – mit Frieda, mit seiner Geheimniskrämerei, mit diesem Gefühl, hintergangen worden zu sein. Wäre sie wirklich konsequent, dann würde sie ihm keine Erklärung schuldig bleiben. Ein leeres Kissen am Morgen, eine aufgeräumte Wohnung, kein Abschied. Nur Stille.
Doch trotz aller Kränkung konnte sie nicht anders. Irgendetwas in ihr wollte ihm wenigstens eine Spur hinterlassen, wollte ihm mitteilen, wo sie war. Vielleicht war es Respekt. Vielleicht Gewohnheit. Vielleicht auch nur der letzte Rest einer Hoffnung, dass er um sie und kämpfen würde. Denn die Hoffnung, so sagte sei sich, stirb bekanntlich zuletzt.
Sie griff zum Stift. Einmal tief durchatmen. Dann begannen die Worte zu fließen – stockend zuerst, dann klarer, vorsichtiger, wie ein Weg, den man Schritt für Schritt tastet:
Lieber Karl,
manchmal ist es nicht die lauteste Explosion, die uns ins Wanken bringt, sondern das stete Tropfen, das in unser Innerstes fällt. So viele Tropfen sind in den letzten Wochen auf mich niedergegangen. Einige davon haben Spuren hinterlassen, die ich nicht so einfach wegwischen kann. Ich merke, dass ich Zeit brauche. Zeit, um zu verstehen, was da gerade in mir geschieht.
Fragen haben sich aufgetürmt – zu viele, um sie im Lärm unseres Alltags gleich zu beantworten. Ich möchte sie nicht mit schnellen Worten übertönen, sondern ihnen zuhören.
Darum werde ich eine gewisse Zeit bei meiner Mutter verbringen. Dort, wo alles einfacher scheint, wo das Gestern noch näher wirkt als das Heute. Vielleicht finde ich dort den Faden wieder, den ich verloren habe. Ich bitte dich, das nicht als Flucht zu sehen, sondern als eine notwendige Pause. Eine Pause von uns, von dir, von allem.
Johanna
Johanna legte den Stift zur Seite, las die Zeilen noch einmal durch und spürte, wie schwer ihr Herz geworden war. Sie faltete das Blatt sorgfältig zusammen, als wäre es etwas Zerbrechliches, legte es in ein schlichtes Kuvert und schrieb Karls Namen darauf. Fast hätte sie darunter noch ein "Deine Johanna" gesetzt – doch sie ließ es bleiben. Sie wollte nicht so tun, als sei noch alles heil.
Mit einem leisen Seufzer stand sie auf, ging ins Schlafzimmer und legte den Brief auf sein Kopfkissen. Dort würde er ihn finden, dort, wo normalerweise der Gute-Nacht-Kuss hingehörte.
Auf dem Weg zum Kleiderschrank griff sie zu einer kleinen Tasche. Keine große Sache – ein paar Kleidungsstücke, die Zahnbürste, ihr Lieblingsbuch. Für ein paar Tage würde das reichen.
Während sie die Tasche schloss, wanderte ihr Blick gedanklich schon zu ihrer Mutter. Wie würde es dort sein? Würde ihre Mutter wieder sofort mit gut gemeinten Ratschlägen kommen, wie man eine Ehe "richtig" führt? Oder konnte sie diesmal einfach nur zuhören? Johanna sehnte sich nach Letzterem – nach einem Ohr, das nicht bewertet, nach einem Herzen, das still neben ihr schlägt.
Vielleicht, dachte sie, war dies ihre eigentliche Prüfung: nicht nur Abstand von Karl zu gewinnen, sondern auch von den Stimmen, die sie seit jeher begleiteten. Ob ihre Mutter das verstehen würde? Sie wusste es nicht.
Johanna schulterte die Tasche, griff nach dem Mantel und trat hinaus. Es war noch Vormittag, die Sonne stand schon etwas höher, aber ein kühler Wind wehte ihr entgegen. Sie zog den Mantel enger um sich. Zum ersten Mal seit Langem fühlte sie sich ein klein wenig freier – und zugleich unendlich allein.
Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss.
Kapitel 33 | Gedankenchaos
Karl schleppte sich die Stufen zum Haus hinauf. Sein Schädel dröhnte, der Magen rebellierte. Mit zittriger Hand fummelte er den Schlüssel ins Schloss, stolperte hinein, die Schuhe blieben achtlos im Flur liegen.
"Johanna?" rief er heiser. Keine Antwort.
Er suchte das ganze Haus ab, rief immer wieder ihren Namen. Wohnzimmer, Küche, Bad – alles leer. Es war diese unheimliche Stille, die wie eine Wand auf ihm lastete.
Erst im Schlafzimmer blieb er wie angewurzelt stehen. Auf dem Kopfpolster lag ein Brief.
Sein Herz schlug schneller. Hoffnung und Angst zugleich mischten sich, als er mit zitternden Fingern das Kuvert öffnete.
"Lieber Karl, ich brauche eine Pause … Ich will meine Gedanken sortieren … Ich brauche Luft zum Atmen … Ich weiß nicht, wie lange ich bleiben werde."
Karl starrte die Zeilen an. Eine Pause? Luft zum Atmen? Gedanken sortieren? Jeder Satz bohrte tiefer.
Sein Kopf raste los. Bilder, Fragen, Verdächtigungen. Natürlich – Hubert! Der schöne Hubert hat mit seinem schleimigen Lächeln Johanna verführt. Wahrscheinlich war Johanna längst bei ihm. Vielleicht hatten sie schon … Er knirschte mit den Zähnen, seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Doch dann las er den Brief noch einmal. Genauer. Was? Johanna ist bei ihrer Mutter?
Karl blinzelte – er atmete einmal durch. Wenn Johanna wirklich zu ihrer Mutter gefahren ist, dann konnte sie nicht gleichzeitig bei Hubert sein. Diese kleine, logische Brücke füllte in seinem Kopfkino ein entscheidende Lücke und brachte für einen Moment Ruhe.
Vielleicht, dachte er, vielleicht sind all diese Bilder nur Humbug. Vielleicht ist die Wahrheit viel einfacher – Johanna ist wirklich bei ihrer Mutter. Und Hubert? Naja, so schön ist er auch nicht mehr ...
Langsam faltete er den Brief zusammen, atmete tief ein. Heute würde er versuchen sein Gedankenchaos etwas zu ordnen. Doch für morgen, nahm sich Karl vor, würde er sich auf den Weg machen. Es half nichts. Antworten würden nicht hier in der leeren Wohnung liegen. Antworten gab es nur bei seiner Schwiegermutter.
Kapitel 34 | Make Love not war
Die Sonne legte sich golden über die kleine Bäckerei, als Frieda am Fensterplatz saß. Vor ihr ein Stück Topfentorte, daneben ein kleiner Brauner. Sie stochte mit dem Löffel ein wenig im Schaum herum, ohne ihn wirklich zu trinken. Ihre Gedanken schweiften wie Rauchkringel durch den Raum.
Karl. Der arme, knuddelige Karl. Heute Vormittag lag er verkatert und halb zerbrochen auf ihrer Couch. Ein Häufchen Elend, das nach Wärme suchte. Fast hätte sie sich neben ihn gesetzt, fast … aber nur fast.
Und Johanna? Vielleicht war sie tatsächlich mit Hubert unterwegs. Warum eigentlich nicht? Frieda zuckte innerlich die Schultern. Johanna war schließlich auch nur ein Mensch. Vielleicht brauchte sie einfach einmal eine Nacht voller Leichtigkeit, voller prickelnder Funken. Ist das wirklich so schlimm? Frieda fand: nein.
Sie lächelte. In ihrer Welt war Treue nichts Starres, kein Klotz am Bein, sondern eher wie ein Tanz – mal näher, mal weiter weg, Hauptsache, der Rhythmus stimmt. Und wenn man sich dabei zwischendurch ein paar andere Tänzer gönnte … na, dann war's eben auch nur ein Tanz. Make Love, not War. So einfach konnte es manchmal sein.
Ihre Gedanken glitten sanft weiter, zu Hubert. Ach, Hubert. Der Schöne, der Spielerische. Der, der immer wieder auftauchte – manchmal mit einer Rose, manchmal mit einer Flasche Rotwein, manchmal einfach nur mit einem schiefen Grinsen. Und meistens verschwand er ein paar Stunden später wieder, satt und zufrieden. Erst von ihrem Kuchen. Dann von ihr. Oder umgekehrt. So unkompliziert. So frei.
Und genau deshalb konnte sie es sich lebhaft vorstellen, dass Johanna vielleicht auch schwach geworden war. So eine Nacht mit Hubert war kein Drama – es war ein Stück Leben. Frieda lächelte in sich hinein. Ach Hubert, du alter Herzensräuber. In ihrem Kopf wirbelten die Bilder – wie sie ihm einmal den Schokokuchen vom Finger geleckt hatte, wie sie zusammen in der Küche gelacht, gealbert, geliebt hatten. Nichts, worüber man viele Worte verlieren musste. Alles, was zählte, war dieses Gefühl von Leichtigkeit.
Und dann, fast nahtlos, wanderten ihre Gedanken zurück zu Karl.
Vielleicht … ja, vielleicht würde auch er einmal so eine Inspiration brauchen. Ein kleiner Ausbruch aus der Ehe-Komfortzone. Ein bisschen Leidenschaft, ein bisschen Feuer. Das könnte ihm guttun, vielleicht sogar Johanna guttun – wer weiß.
Frieda grinste, rührte im kalten Kaffee und dachte: Und falls Karl mal Lust hätte, etwas Neues auszuprobieren … naja, da würde sie sich hilfsbereit zeigen.
Kapitel 35 | Heimathafen
Johanna stand eine Weile vor der Haustür, bevor sie die Klinke drückte. Es war dieser vertraute Geruch nach Bohnerwachs und ein bisschen Vanille, der sie sofort umfing, kaum dass sie die Schwelle überschritten hatte. Ein Geruch nach Kindheit, nach Schutz, nach "Hier bin ich daheim".
"Johanna?" Die Stimme ihrer Mutter kam aus der Küche, ein kleines Stück Unsicherheit darin, aber auch Freude.
"Ja, Mama. Ich bin's."
Die Mutter erschien im Türrahmen, wischte sich die Hände an der Schürze ab und öffnete die Arme. Johanna ließ sich in die Umarmung sinken. Für einen Moment war alles so wie früher, als sie noch klein war und nach einem schlechten Traum ins Schlafzimmer geschlüpft war.
"Komm, setz dich. Ich mach uns Tee."
Der Küchentisch war wie immer gedeckt, eine kleine Vase mit Blumen stand in der Mitte, als hätte er auf sie gewartet. Johanna ließ sich auf den Stuhl sinken, streifte den Mantel von den Schultern und atmete tief durch.
Die Mutter stellte zwei Tassen hin, setzte sich und schaute ihre Tochter prüfend an. "Du siehst müde aus. Ist was passiert?"
Johanna nickte, doch die Worte wollten nicht gleich heraus. "Es ist … vieles. Zu viel auf einmal."
Die Mutter legte den Kopf leicht schräg. "Manchmal hilft's, wenn man sich Luft macht. Soll ich dir sagen, was ..."
"Mama." Johanna hob sanft die Hand, fast schüchtern. "Darf ich dich um etwas bitten? Hör mir einfach nur zu, ja? Ohne Tipps. Ich wünsch mir im Moment nur, dass ich erzählen darf. Geht das?"
Einen Atemzug lang war es still. Die Mutter musterte sie, und in ihren Augen schimmerte plötzlich so etwas wie Erkenntnis. Dann schob sie ihre Hand über den Tisch und legte sie auf Johannas. "Natürlich. Erzähl, ich bin da."
Johanna lächelte zaghaft. Irgendetwas in ihr lockerte sich, als hätte jemand einen festen Knoten gelöst. "Danke, Mama … das tut gut."
Die nächsten Minuten sprach Johanna langsam, fast tastend. Von den Tagen, die sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Von Karl, von Hubert, von Fragen, die keine Antworten fanden. Ihre Mutter nickte nur leise, ließ sie reden, ließ die Pausen stehen, ohne sie zu füllen.
Und in diesen Pausen spürte Johanna, dass da etwas Neues war zwischen ihnen: kein erhobener Zeigefinger, kein Rat, kein "Du solltest". Nur ein stilles Dasein.
"Es tut so gut, einfach mal reden zu dürfen", dachte Johanna. Und während draußen die Dämmerung leise über das Dorf zog, fühlte sie sich hier am Küchentisch – bei ihrer Mutter, mit Tee und Blumen und diesem warmen Schweigen – so aufgehoben wie schon lange nicht mehr.
Kapitel 36 | Ein neuer Morgen
Johanna wachte auf, weil das Licht durch den Vorhang fiel. Ein gewöhnlicher Morgen – und doch war er anders. Sie fühlte sich klarer, ein kleines Stück leichter. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte Spuren hinterlassen. Keine großen, dramatischen – aber genug, um ihr das Gefühl zu geben: Ich darf gerade so sein, wie ich bin.
In der Küche roch es nach Kaffee und geröstetem Brot. Johanna setzte sich, ihre Mutter stellte wortlos eine Tasse vor sie hin. Es war diese einfache Geste, die ihr fast mehr bedeutete als viele Worte.
"Gut geschlafen?" fragte die Mutter und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
"Ja, erstaunlich gut sogar. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell zur Ruhe komme."
"Die frische Luft hier draußen wirkt manchmal Wunder."
"Und dein Kaffee auch", lächelte Johanna.
Die Mutter grinste: "Na siehst du – doch noch etwas, das ich dir geben darf, ohne dich zu bedrängen."
Sie lachten beide leise, fast erleichtert. Dann griff Johanna nach der Hand ihrer Mutter und sagte:
"Danke für gestern. Dass du mir einfach zugehört hast. So konnte ich mir meine Gedanken endlich selbst sortieren."
Die Mutter nickte nur, und Johanna spürte, dass keine weiteren Worte nötig waren.
Beim Abschied umarmten sie sich. Keine übertriebene Geste, kein großes Pathos – einfach eine ehrliche, lange Umarmung, die beiden guttat. Johanna trat hinaus vor die Tür. Ihre Tasche war gepackt, ihre Schritte fest. Sie wusste, wohin sie gehen wollte. Zumindest für den Moment.
Kapitel 37 | Ein neuer Morgen
Karl wachte früh auf. Der Kopf war klar, fast zu klar – und gerade das machte es schlimmer. Keine Ausrede mehr, kein Restalkohol, der das Denken betäubte. Nur er, die Stille im Haus und dieser eine Brief auf dem Küchentisch.
Er hatte ihn gestern schon gelesen, mehrfach. Und doch griff er wieder danach, als könnte er über Nacht andere Worte angenommen haben. Aber nein – dieselben Sätze, dieselbe Handschrift. Pause. Gedanken sortieren. Abstand.
Er setzte sich hin, stützte die Ellbogen auf den Tisch, fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. Zum ersten Mal spürte er, wie ernst es war. Johanna war nicht einfach beleidigt, sie war fort. Und er? Er saß da, unfähig zu begreifen, wie ihm sein Leben so entgleiten konnte.
Seine Gedanken ratterten:
-
Hatte Johanna wirklich etwas mit Hubert? Oder war das bloß eine Eifersuchtsphantasie?
-
Warum zum Teufel war er ausgerechnet bei Frieda gelandet?
-
Und wieso empfand er, wenn er an ihre fürsorgliche Art dachte, eine Wärme, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte?
Er lehnte sich zurück. Hubert – dieser ewige Schönling, der überall für Aufruhr sorgte. Johanna – seine Frau, die nun Abstand suchte. Frieda – die Freundin, die plötzlich mehr war, als sie sein sollte.
Karl merkte, dass er am Scheideweg stand.
"Weiterschlafen geht nicht mehr", murmelte er.
Zum ersten Mal seit Langem war er ganz wach. Und plötzlich wusste er, was zu tun war.
Kapitel 38 | Unerwartete Begegnung
Karl fuhr, als würde das Lenkrad seine Hände festhalten und nicht umgekehrt. In seinem Kopf klangen Sätze nach, die er schon hundertmal von Johannas Mutter gehört hatte: "Du arbeitest zu viel, Karl. Deine Frau braucht mehr als ein pünktliches Gehalt." Damals hatte er die Augen verdreht. Heute musste er sich eingestehen: Ganz unrecht hatte sie nie.
Vor dem Haus bremste er zu früh, rollte den Rest im Schritttempo. Der Vorgarten: ordentlich, Lavendel, der im Wind kaum zuckte. Das Fenster in der Küche gekippt. Er atmete einmal tief durch, klopfte an und hielt die Luft an, als würde das helfen.
Die Tür ging auf. Johannas Mutter sah ihn an, überrascht, nicht feindselig. Ein kurzer Stich der Erleichterung.
"Grüß dich, Karl", sagte sie. "Komm rein."
"Ist … ist Johanna da?" Seine Stimme klang rauer, als er wollte.
"Nein. Sie ist unterwegs", sagte sie ruhig. "Setz dich."
Sie gingen in die Küche. Kein Verhör-Gefühl, eher wie ein Warten. Sie stellte zwei Tassen hin, drehte den Löffel im Zucker, ohne zu klirren. Er setzte sich an die Schmalseite des Tisches, sie blieb schräg neben ihm sitzen. Nicht gegenüber. Das half.
"Ich hab befürchtet, du würdest mir die Ohren langziehen", sagte Karl nach einer Weile, halb ernst, halb im Scherz.
"Und? Würde es etwas besser machen?" Ein kleines Zucken um ihre Mundwinkel. Kein Hohn.
Er schüttelte den Kopf. "Nein."
Stille. Die Uhr an der Wand tat ihre Arbeit. Irgendwann merkte er, dass sie ihn nicht drängte. Er fing an zu reden. Erst holprig, dann flüssiger.
"Ich hab vieles verpasst", sagte er. "Zu oft gedacht: Wenn ich das noch fertig mache, hab ich später Zeit. Später war dann nie. Ich hab nicht mal gemerkt, wann sie die Haare anders getragen hat. Oder dass sie beim Frühstück manchmal einfach nur dagesessen ist und… nichts gesagt hat." Er schluckte. "Ich hab das für Ruhe gehalten. Es war wahrscheinlich Einsamkeit."
Johannas Mutter nickte langsam. "Möglich."
"Und dann ... " Er brach ab, suchte nach einem Wort, das nicht peinlich klang. "... dann kommt dieser Hubert daher. Und ich werde eifersüchtig wie ein Teenager. Dabei…" Er rieb sich die Stirn. "Dabei weiß ich nicht mal, ob da überhaupt was war."
Sie ließ den Satz stehen. Kein "aber", kein "siehste". Er spürte, wie die Anspannung nachließ.
Sie nahm einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse leise ab. "Manchmal hilft es einfach, Gedanken im Raum stehen zu lassen."
Er nickte. "Ja … manchmal reicht das."
Die beiden schwiegen. Nichts Schweres lag in dieser Stille, eher so etwas wie ein gemeinsames Atmen. Durch das gekippte Fenster zog der Duft von frisch gegossener Erde herein, draußen zwitscherte ein Spatz, als hätte er keine Ahnung von all den Sorgen im Haus.
Karl rieb sich über die Stirn, sah dann auf. Seine Stimme war leiser als eben, fast zögerlich. "Sag … was soll ich jetzt tun?"
Sie betrachtete ihn einen Moment, ohne Eile, als wolle sie prüfen, ob die Frage wirklich ernst gemeint war. Dann legte sie die Hand um ihre Tasse, als bräuchte sie deren Wärme.
"Vielleicht," sagte sie schließlich, "machst du den nächsten Schritt nicht im Kopf … sondern im Herzen."
Kapitel 39 | Eine Fahrt ins Nirgendwo
Karl lenkte den Wagen hinaus aus dem Ort. Er wusste nicht genau, wohin er fuhr – vielleicht wusste es der Wagen auch selbst nicht. Die Straße lag da, und er ließ sie einfach kommen.
Im Kopf war es unruhig, aber diesmal nicht dieses zermürbende Kreisen, sondern mehr wie ein Marktplatz voller Stimmen. Alle wollten etwas sagen, und jede Stimme hatte etwas Spannendes zu bieten.
Vielleicht hat Johanna recht … vielleicht brauchen wir wirklich eine Pause. Aber eine Pause ist kein Ende. Vielleicht kann ein Ende auch ein Anfang sein. Warum denke ich jetzt an Anfang? Ach ja – an unseren ersten Tanz. Verdammt, wie sie da gelacht hat … dieses Lachen war mein Zuhause.
Er schaltete zurück, hörte den Motor brummen. Und Frieda … dieser Blick vorhin … nein, das war was anderes. Aber schön war's auch. Schön, dass es noch Menschen gibt, die mich sehen. Vielleicht sollte ich öfter sehen. Einfach hinschauen. Nicht nur arbeiten, nicht nur rennen.
Er bog ab, ohne nachzudenken. Johannas Mutter hat recht – der nächste Schritt kommt nicht aus dem Kopf. Immer diese Pläne, diese To-do-Listen. Vielleicht fang ich mal kleiner an. Einen Kaffee kochen. Eine Blume kaufen. Eine Entschuldigung sagen. Das wär schon ein Anfang.
Die Landschaft flog vorbei, Felder, ein Stück Wald, dann wieder Wiesen. Alles so unspektakulär – und gerade deshalb tröstlich. Das Leben läuft, auch wenn ich nicht weiß, wo's hingeht. Vielleicht muss ich das einfach mal aushalten. Nicht wissen. Einfach fahren.
Ein kurzer Gedanke, fast flüchtig: Und wenn das alles – Johanna, Frieda, Hubert, mein ganzes Chaos – am Ende dafür da ist, dass ich lerne, mehr Herz in den Tag zu legen?
Karl atmete tief durch. Das erste Mal seit Langem fühlte er keine bleierne Schwere. Gedanken waren da, ja, jede Menge – aber sie stachen nicht. Sie trugen ihn, wie eine Welle, die man einfach mitgeht.
Er wusste nicht, wo er ankommen würde. Aber zum ersten Mal war das kein Problem.
Kapitel 40 | Zwischen den Türen
Jonathan öffnete die Tür, kaum dass Johanna geklingelt hatte.
"Mama!" Er umarmte sie fest, länger als sonst. "Komm erst mal rein."
Sie legte Mantel und Tasche ab, folgte ihm in die Küche. Auf dem Tisch standen zwei Kaffeetassen, eine halb leer. "Hattest du Besuch?" fragte sie beiläufig.
"Nur ein Freund, der ist schon weg." Er musterte sie, ernst, auf eine Weise, die Johanna kurz verlegen machte.
"Weißt du, Mama … ich hab euch eigentlich immer für ein ziemlich stabiles Paar gehalten. Nie die große Leidenschaft, aber … verlässlich. Solide eben. Ich hab mir nie Sorgen gemacht." Er atmete hörbar aus. "Aber jetzt … fühlt sich das anders an. Muss ich mir Sorgen machen?"
Johanna wich seinem Blick aus, strich mit den Fingern über die Kaffeetasse, die er ihr hingeschoben hatte. "Es ist … gerade schwierig, Jonathan. Es sind viele Fragen aufgeploppt, die wir lange nicht gestellt haben."
"Also stimmt es?"
"Was genau?"
"Dass mit Papa was nicht stimmt. Dass er …" Er brach ab, suchte nach einem Wort, das nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig sagte. "Er und Frieda?"
Johanna schwieg. Sie spürte, wie sehr er sich eine klare Antwort wünschte, und doch konnte sie sie nicht geben. Zu vieles war unklar, zu vieles zwischen Vermutung und Wahrheit.
"Ich weiß nicht, Jonathan. Ich weiß es wirklich nicht."
Er nickte langsam. "Okay." Seine Stimme war ruhig, aber in seinen Augen lag eine Unruhe, die Johanna das Herz schwer machte.
Gerade als sie ansetzte, mehr zu sagen, klingelte es an der Tür.
Jonathan runzelte die Stirn. "Warte kurz."
Er ging hinaus, öffnete. Johanna hörte Schritte, hörte seine Stimme. Dann … eine vertraute Stimme, die ihr durch Mark und Bein ging.
"Hallo Jonathan. Ist deine Mutter da?"
Kapitel 41 | Ein Tisch, drei Stimmen
"Darf ich reinkommen?" Karl schaute seinen Sohn unsicher an.
Sekundenlang Stille. Dann nickte Jonathan und ließ ihn eintreten. "Ich glaube, ihr zwei solltet reden."
Sie setzten sich. Johanna presste die Hände um ihre Tasse, als könnte sie sich daran festhalten. Dann brach es aus ihr heraus:
"Karl, was war das mit Frieda?"
Er fuhr herum, erschrocken. "Mit Frieda? Was sollte sein?"
"Nichts??? Du hast bei ihr geschlafen!"
"Ja, und ... ! Und … und nur, weil …" Er brach ab, fuhr sich durch die Haare. "Und du? Was ist mit dem schönen Hubert?"
"Mit Hubert? Gar nichts! Wie kannst du so etwas denken?!"
"Na, du hast doch … Ich hab euch doch gesehen ... im Park."
"Du hast mir hinterher spioniert? Und ich dachte, ich könnte Dir vertrauen, dass Du mir vertraust!!"
"Stopp!" Jonathan schlug mit der Hand auf den Tisch, so fest, dass alle drei zusammenzuckten. "Ihr redet wie zwei Kinder auf dem Pausenhof. Jetzt erzählt mal. Also Mama, das würde mich jetzt schon auch interessieren. Du ... und der schöne Hubert?"
Johanna atmete tief durch, ihre Augen glänzten. "Es war nichts mit Hubert. Nie."
Karl nickte, beinahe erleichtert. "Und mit Frieda auch nicht. Ich war … ich war betrunken. Und … eigentlich wollte ich etwas ganz anderes."
"Was denn?" Johanna schaute ihn fragend an.
Karl schluckte. "Eine Schnitzeljagd. Eine romantische Schnitzljagd. Für dich. Eine Spurensuche wie früher, mit Rätseln, kleinen Überraschungen … Erinnerst du dich an die Nachtwanderung, gleich nach unserer Hochzeit?"
Johannas Blick wurde weich. "Natürlich erinnere ich mich."
"So etwas wollte ich noch einmal machen. Aber …" Er atmete tief durch. "Es ging alles schief. Ich habe mich verrannt, im wahrsten Sinn des Wortes. Und am Ende … saß ich bei Frieda auf dem Sofa, mit zu viel Alkohol im Blut. Mehr war da nicht. Wirklich nicht."
Stille. Eine schwere, ehrliche Stille.
Dann legte Johanna ihre Hand auf seine. "Karli …" Ihre Stimme war brüchig. "Warum hast du mir das nicht einfach gesagt?"
"Weil ich dich überraschen wollte. Und … weil ich Angst hatte, dass du lachst. Oder sagst: 'So ein Blödsinn.'"
"Ich hätte nicht gelacht." Ihre Hand blieb auf seiner liegen. "Ich hätte mich gefreut. Unglaublich gefreut."
Etwas löste sich. Erst zaghaft, dann kräftiger. Karl griff nach ihrer Hand, hielt sie fest. Sie schauten sich an – und plötzlich war da Wärme, Nähe, die Worte überflüssig machte. Johanna stand auf, zog ihn mit sich. Sie umarmten sich, lange, fest, ohne Vorbehalt. Und dann legte sich noch eine dritte Hand um beide: Jonathan, der zu ihnen trat, die Eltern in seine Arme schloss.
Drei Menschen, ein Knoten aus Schmerz, Liebe und Neubeginn.
Epilog | Hinterm Pavillon
Die Abendsonne hing tief, färbte den kleinen Park in warmes Gold. Hinter dem Pavillon, zwischen Fliederbüschen und alten Rosenstöcken, standen zwei Gestalten – ein wenig unbeholfen, fast wie Teenager auf dem ersten Date.
"Hallo Hubert … danke für den lieben Brief und die romantische Einladung", begann Frieda, ihre Stimme schwankte zwischen Neugier und Skepsis.
Hubert blinzelte verwirrt. "Ähm … bitte? Ich? Einladung? Ich dachte, du … du hast mir doch geschrieben?"
"Wie bitte? Nein! Ich bin hier, weil Du mir geschrieben hast!"
Sie sahen sich an. Eine Sekunde lang Stille. Dann lachten beide – erst zögernd, dann so, dass es zwischen den Rosenbüschen widerhallte.
Ein paar Meter weiter, halb geduckt hinter einer Hecke, hockten Karl und Johanna. Wie zwei Kinder, zwei schelmische Kinder. Karl hielt den Finger vor die Lippen. "Pssst!"
Doch Johanna kicherte leise. "Du hast seine Handschrift echt gut imitiert."
"Und du Friedas. Fast schon unheimlich."
Sie lugten wieder durch das Gebüsch.
"Also, Hubert", Frieda schob eine Strähne zurück, "wenn du mir nicht geschrieben hast, und ich dir auch nicht … dann …?"
Hubert grinste breit. "Dann sind wir wohl beide hereingelegt worden."
"Von wem?"
"Keine Ahnung."
"Weißt du was? Ist doch egal. Wir sind jetzt hier. Zusammen. Und …" Sie sah ihn mit einem Funkeln an. "Ich hätte da so eine Idee. Eine süße Idee."
Im Gebüsch drückte Johanna Karls Hand. "Siehst du? Manchmal braucht es nur einen kleinen Schubs."
Karl nickte, leise lächelnd. "Und manchmal helfen ein paar liebevolle Worte von einem Briefattentäter."
✨ Freut mich, dass Du bis hierher gelesen hast.
Vielleicht hast Du dabei nicht nur Johanna, Karl und die anderen im Kopf gehabt, sondern auch deine eigene Partnerschaft. Vielleicht ist Dir aufgefallen, dass es bei Dir manchmal mehr Stolpersteine als Sternstunden gibt. Oder dass da noch viel Feuer in euch schlummert – aber eher als Konflikt-Glut statt als wärmende Flamme.
Genau deshalb gibt es FREEMING.
Ein Raum, in dem Worte frei werden dürfen.
Ein Ort, an dem du dir Luft verschaffen kannst – ohne Angst, ohne Druck.
Und ein Weg, um Stück für Stück mehr Leichtigkeit, Nähe und Leidenschaft zurückzubringen.
💌 Wenn Du neugierig bist:
Du kannst jederzeit ganz unverbindlich und kostenlos reinschnuppern - allein oder zu zweit. Und vielleicht ist das schon der erste Schritt zu mehr Freude, weniger Schwere … und zu einer Partnerschaft, die Dich wieder richtig trägt.