Romantische Schnitzljagd

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Kapitel 1 | Kryptische Zeilen

Das Streichmesser in seiner rechten Hand haltend, greift er mit der linken zur Brombeermarmelade. Zwei gut gehäufte Teelöffel verstreicht er gleichmäßig auf dem schon vorbereiteten Butterbrot – exakt mittig, versteht sich. Denn Chaos auf dem Brot ist Chaos im Leben.

Bevor er davon abbeißt, hebt er sein Glas. Nein, heute nicht der Kaffee. Heute entscheidet er sich rebellisch – für Wasser. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Was wird dieser Tag wohl noch bereithalten? Spannende Überraschungen im Dschungel des ritualisierten Alltags? Wahrscheinlich nicht. Zeitung überfliegen. Schuhe anziehen. Jacke drüber. Hausschuhe dabei sorgfältig im 90-Grad-Winkel nebeneinander parken – Ordnung muss sein. Ein kurzer Blick in den Spiegel, Krawatte zurechtrücken, Seitenscheitel in Position bringen. Dann ein flüchtiger, emotionsloser Abschiedskuss, wie von einem Beamten im Standesamt der Gewohnheit.

Alles vorhersehbar. Alles Routine.

Langsam ließ sie die Tür ins Schloss fallen. Dabei schaute sie ihm noch hoffnungsvoll nach. Einmal, so wünschte sie sich, würde er sich umdrehen, ihr einen Blick schenken – einen Blick voller Sehnsucht, der Hollywood würdig wäre. Doch sie konnte sich nicht erinnern, dass er so etwas jemals getan hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich die Szene nur aus diversen Rosamunde-Pilcher-Romanen zusammengepinselt.

Seufzend ging sie zurück in die Küche und schlug ihr Buch Ritter der ewigen Sehnsucht auf. Routinemäßig öffnete sie es auf der letzten, schon ziemlich ramponierten Seite. Mit halbgeschlossenen Augen las sie die Zeilen, die sie mittlerweile fast auswendig kannte …

Sanft strich er ihr noch einmal durchs Haar. Dabei schaute er ihr tief in die Augen. Wortlos versprach er, sie für immer zu lieben. Und auch wenn er jetzt fortreiten müsse, so würde sie in seinem Herzen bei ihm sein. Sie nahm seine Hand und küsste jeden Finger, um sich bei jedem einzelnen zu verabschieden. Ein letzter Blick noch in seine so wunderschönen, dunkelblauen Augen. Eine Träne bahnte sich ihren Weg über ihre Wange und verriet ihm, dass sie es schon ahnte: Sie würden sich nie wieder sehen.

Mit dem Finger strich sie noch einmal über die Zeilen, als wollte sie dem Ritter persönlich Lebewohl sagen. Dann stellte sie das Buch zurück ins Regal – zurück in die Realität, zurück zu den Sisyphusarbeiten des Alltags.

Die Ehe? Ein Schatten.
Der Sohn? Selten gesehen.
Die Freundinnen? Verschwunden in Terminen, Streitereien oder schlicht in der Vergessenheit.

Wie ferngesteuert ging sie zum Briefkasten. Erwartungslos. Aber dann: ein Brief. Ein anonymer Brief. Schon wieder.

Langsam legte sie sich aufs Sofa. Diesen Moment wollte sie zelebrieren, als wäre das Kuvert eine Schachtel feinster Pralinen. Sie strich mit der Fingerspitze jede Kante entlang. Vorsichtig öffnete sie den Brief, so als könnte er explodieren.

Sie faltete das schöne Papier auseinander. Ein eigenartiger Text.

"Ich halte nun den Brief in Händen und überlege mir, was das zu bedeuten hat …"

Sie stockte. Las erneut. Dann noch einmal. Das Absurde: Die Worte waren ihre eigenen Gedanken.

Auf der Rückseite: weitere kryptische Zeilen. Der Brief von letzter Woche – auch von derselben Person. Aber wo war der eigentlich?

Sie stürzte zum Altpapiercontainer, wühlte darin herum, bis sie den ersten Brief wiederfand. Sie brauchte ihn eigentlich nicht mehr zu lesen – die Worte hatten sich längst eingebrannt. Trotzdem schlug sie ihn auf, und ihre Augen huschten über die Zeilen.

"Kannst du mir verzeihen?"

Kapitel 2 | Mögliche Verdächtige

Letzte Woche hatte sie noch gedacht, jemand wolle ihr bloß einen schrägen Scherz spielen. Aber mit diesem zweiten Brief? Da roch es plötzlich nach mehr. Nach Tiefe. Nach einer Botschaft, die zwischen den Zeilen versteckt lag. Zumindest hoffte sie das.
Sie nahm den Brief noch einmal zur Hand. Langsam, als ob er bei zu hastigem Lesen gleich verpuffen könnte. Sie wollte jedes Wort verstehen, jede Nuance einfangen. Und sie wollte unbedingt wissen: Wer schrieb so etwas? Wer wollte sich auf so geheimnisvolle Weise mit ihr versöhnen?

War es vielleicht Helena?
Die hatte beim letzten Treffen mit ihrer Schroffheit wieder einmal sämtliche diplomatischen Grenzen pulverisiert. Vielleicht war ihr ja aufgefallen, dass Worte schärfer sein können als jedes Küchenmesser. Aber nein – Helena war bekannt dafür, dass ihre Gedanken eine Direktverbindung zum Mund hatten, ohne Umweg über die Nachdenkzentrale. Wenn sie sich entschuldigen wollte, würde sie das wahrscheinlich zwischen Tür und Angel raushauen, so beiläufig wie: "Ach übrigens, sorry, und die Milch ist alle." Ein Brief? Nein. Unvorstellbar.

Ihr Mann?
Sie schnaubte leise. Da gab es keinen Grund für eine Versöhnung. Denn um sich zu versöhnen, müsste man sich vorher gestritten haben. Stattdessen lebten sie seit Jahren nebeneinander her wie zwei Züge auf Parallelgleisen: immer unterwegs, immer in Bewegung, aber niemals eine Weiche in Sicht.
Manchmal wünschte sie sich fast ein kleines, rhetorisches Scharmützel. Wenigstens ein Reibungspunkt, damit sie spürte: Da ist noch Leben in der Leitung. Stattdessen: sachliche Wetterberichte und politisches Achselzucken. Leidenschaft? Fehlanzeige. Körperliche Nähe? Eher eine archäologische Erinnerung.

Vielleicht ihre Mutter?
Das Verhältnis: nicht himmelhoch jauchzend, nicht zu Tode betrübt – einfach irgendwo zwischen diplomatisch und "mühsam, aber eh ok". Andere Töchter telefonieren täglich, um ihrer Mutter die Lieblingssendung nachzuerzählen. Wieder andere kriegen schon Ausschlag, wenn sie nur an ein gemeinsames Weihnachtsessen denken. Sie selbst hatte den Mittelweg gefunden: höflich, pflichtbewusst, ohne große Emotionen.
Aber vielleicht wollte ihre Mutter reinen Tisch machen? Man weiß ja nie – vielleicht steckte eine Krankheit dahinter, von der sie nichts ahnte. Der Gedanke ließ ihr Herz kurz schneller schlagen. Doch gleich beruhigte sie sich wieder: Wäre es wirklich etwas Ernstes, hätte ihre Mutter schon längst eine Familienkonferenz einberufen, inklusive Tagesordnung und Kuchen.

Ihr Sohn Jonathan?
Er… naja. Er könnte sich auch mal wieder melden. Natürlich: Job stressig, Freundin anspruchsvoll – schon klar. Aber ein kurzes Lebenszeichen wäre doch drin. Ein Brief als Ersatz für einen Anruf? Das wäre immerhin originell. Aber geheimnisvolle Botschaften à la "Kannst du mir verzeihen?" – das passte nicht zu ihm. Er schrieb eher Mails mit Betreffzeilen wie "Überweisung erledigt".

Sie seufzte, griff schließlich zum Handy und wählte die Nummer von Frieda. Ganz egal, ob die als Verfasserin infrage kam oder nicht – ihre Stimme zu hören, würde guttun.
Es klingelte.

"Was für eine freudige Überraschung. Hallo, Johanna!"

Kapitel 3 | Schöne Erinnerungen

Ja, es gibt sie – diese Freundschaften, die kein Verfallsdatum kennen. Man hört ewig nichts voneinander, und wenn man sich wieder meldet, ist es so, als hätte man gestern gemeinsam Kaffee getrunken. Unkompliziert. Herzlich. Lustig.

Schön war es, wieder einmal mit Frieda zu telefonieren. Und gleich fürs kommende Wochenende hatten sie ein Treffen im Kaffeehaus fixiert. Ob Johanna von den anonymen Briefen erzählen sollte?
Ein Teil von ihr war neugierig auf Friedas Reaktion – vielleicht war ja doch sie die Verfasserin? Aber ein anderer Teil wollte das Geheimnis für sich behalten. Ein kleines Stück Zauber, das man besser nicht zerredet. Dieses Kribbeln, diese Spannung – es fühlte sich an wie eine jugendliche Schwärmerei. Ein Schatz, den man vorsichtig in der Tasche trägt, damit er nicht herausfällt.

So viele inspirierende Gedanken tanzten in ihrem Kopf. Warum macht man das eigentlich nicht öfter – einfach jemanden anrufen, den man gern hat? Umgekehrt freut man sich doch auch. Vielleicht sogar jemanden, der so gar nicht damit rechnet. Eine alte Klassenkameradin? Eine ehemalige Mitbewohnerin? Oder… die Sandkastenliebe?

Johanna griff zu Stift und Papier. Eine Liste entstand. Und zu ihrer Überraschung wuchs sie schneller, als sie dachte – Namen reihten sich aneinander wie Perlen. Mit jedem Namen kam eine Erinnerung, manche blass, andere so lebendig, dass sie fast Geräusche und Düfte dazu wahrnahm. Sie gönnte sich eine kleine romantische Zeitreise.

Da war das Klassenzimmer.
Der gutaussehende Geografielehrer Georg Bohrmann stand vorne, und seine Augen funkelten, wenn er von den heißesten Wüsten, den grünsten Dschungeln und den gefährlichsten Tieren erzählte. Selbst das Kreidequietschen klang bei ihm wie eine Symphonie.
Johanna saß in der ersten Reihe, verliebt wie ein Teenager – was sie ja auch war. Und sie war nicht die Einzige. Georg konnte jedes Herz gewinnen, ob Mädchen oder Junge, Hauptsache, man ließ sich von seinen Geschichten tragen.

Ob er wohl noch unterrichtete? Oder längst in Pension, vielleicht irgendwo in Südamerika am Strand, mit einem VW-Bus und einer Hängematte? Johanna lächelte. Es wäre schön, ihm zu sagen, welche Spuren er in ihrem Leben hinterlassen hatte.

Dann erinnerte sie sich an Marokko. An die Farben, die Düfte, das Lachen. An die Strohmüllers, dieses witzige Pärchen, mit dem sie Tränen gelacht hatte. Ach, was für ein Urlaub das war – wahrscheinlich der letzte wirklich gute mit ihrem Mann. Danach hatte der Alltag alles wieder grau überpinselt.

Auch die Studienzeit blitzte auf – Mensaessen, das legendär schlechte Spaghetti Bolognese, die aber mit Freunden trotzdem wie ein Festmahl schmeckte. Studentenpartys, bei denen man schwor, "nie wieder" zu trinken… bis zur nächsten Woche. Ob sie wohl heute noch auf so ein Fest kämen? Oder würden sie an der Tür abgewiesen mit einem mitleidigen "Sorry, das hier ist keine Ü50-Party"?

Und dann, wie aus einer Schublade des Herzens, tauchte Hubert auf. Der schöne Hubert. Schon im Kindergarten hatte er ihre kleine Seele stolpern lassen. Mit vierzehn, im Park hinterm Pavillon, dieser eine Kuss – zitternde Hände, rasendes Herz. Und dann… nichts. Warum? Feigheit? Scham? Schüchternheit?
Vielleicht wäre sie heute mit ihm verheiratet, hätte sie damals einfach seine Hand genommen. Hubert war inzwischen geschieden und wieder in den Nachbarort gezogen. Ob er auch noch manchmal an den Pavillon dachte?

Johanna legte den Stift ab und sah auf ihre Liste. So viele Namen, so viele Geschichten. Das war keine Arbeit – das war ein Schatzplan, ein Atlas voller Herzverbindungen.

Und dann kam ihr ein Gedanke: Warum nicht selbst Briefe schreiben? Anonym, geheimnisvoll, so wie sie selbst zwei erhalten hatte. Diese unscheinbaren Kuverts hatten in kürzester Zeit ihr Leben bunter gemacht. Warum sollte dieser Zauber nicht auch für andere wirken?

Sie klappte den Laptop auf. Der Bildschirm erwachte zum Leben, wie ein stiller Komplize.
Johanna begann zu tippen.
Vielleicht würde ihr erster Brief noch rechtzeitig im Briefkasten landen.

Kapitel 4 | Kriminelle Wendung

Liebe Frieda,
Du sollst wissen, dass es da draußen in der großen, weiten Welt viele Menschen gibt, die dich richtig gerne haben. Einer davon bin ich. Schön, dass es dich gibt! Ich wünsche dir alles Liebe und Gute auf deinem weiteren Lebensweg.

PS: Zerbrich dir nicht deinen wunderschönen Kopf darüber, wer der Verfasser sein könnte.

Zufrieden las Johanna den Brief noch einmal. Ja – das klang genau so, wie sie es wollte: warm, geheimnisvoll, mit einem Funken Poesie. Mit einem feierlichen Druck auf den "Print"-Button spuckte der Drucker ihr erstes kleines Abenteuer Zeile für Zeile entgegen.

Nun also der nächste Schritt: Wer sollte die zweite Empfängerin sein? Sie überflog die Liste und setzte hier und da ein Hakerl - dort wo sie eine aktuelle Adresse hatte. Bei den meisten blieb es leer. Schon jetzt spürte sie: Sie würde zur Meisterdetektivin ihrer eigenen Adressbücher werden müssen. Aber eins nach dem anderen.

Und dann kam ihr ein genialer Gedanke.
Sie grinste. Breit.
Warum nicht sich selbst einen Brief schicken? Dasselbe Schreiben, nur mit ihrem Namen. Ein Ablenkungsmanöver erster Güte! Angriff ist schließlich die beste Verteidigung. Niemand würde ahnen, dass Johanna Täterin und Opfer in Personalunion war. Sherlock Holmes hätte vor lauter Verwirrung wahrscheinlich seine Pfeife verschluckt.

Also schnell den Namen geändert, noch einmal "Print" gedrückt, beide Briefe sorgfältig gefaltet und in die Kuverts gesteckt. Frieda bekam ihren. Johanna auch. Doppeltes Spiel, doppeltes Herzklopfen.

Kurz überlegte sie sogar, Handschuhe zu tragen. Aber dann entschied sie sich bewusst dagegen. Mit einem schelmischen Funkeln hinterließ sie ihre Fingerabdrücke. Sollten die Kriminalbeamten ruhig was zum Rätseln haben – ein kleines Indiz, ein winziger Hinweis. Es kitzelte sie bei dem Gedanken, Teil eines echten Krimis zu sein. In ihrer Fantasie sah sie bereits die gesamte Polizeitruppe der Kleinstadt aufgeregt durch die Gassen hetzen, nur um den "anonymen Briefattentäter" zu entlarven.

Mit ihren zwei brisanten Kuverts im Gepäck machte sie sich schließlich auf den Weg in die Stadt. Johanna versuchte, unauffällig zu wirken. Nicht zu viele Leute ansehen, aber auch nicht nur auf den Boden starren – man wollte ja nicht wirken, als hätte man gerade eine Bank überfallen. "Gar nicht so einfach, wenn man als Briefgangsterin unterwegs ist", dachte sie und musste sich ein Lachen verkneifen.

Am Postschalter klappte alles reibungslos – bis zur entscheidenden Frage.

"Absender?"
Die Postbeamtin sah sie nicht einmal an, während sie die Stempel mit der Leidenschaft einer eingeschlafenen Weinbergschnecke auf die Briefe donnerte.

"Bitte?" fragte Johanna unschuldig.

"Gibt es keinen Absender?"

"Nein, es soll eine Überraschung werden!"

Die Dame zog eine Augenbraue hoch, ohne den Kopf zu heben. "Tsss. Diese Jugend von heute!"

Johanna schluckte ein Kichern hinunter, schnappte die Tasche und trat den Rückzug an – wie eine Geheimagentin, die soeben unbehelligt durch die Zollkontrolle gekommen war.

Der weitere "Transport" lag nun in den Händen eines ahnungslosen Postboten. Johanna fühlte sich leicht, fast berauscht – wie eine Bankräuberin, die mit einem Koffer voller Herzbotschaften flieht.

Zuhause würde sie wieder die brave Ehefrau spielen. Abendessen vorbereiten, wie gewohnt. Und doch wusste sie: Ihr Mann war der Erste, mit dem sie nach dieser kleinen Tat sprechen würde.

Ein Gedanke stieg in ihr auf.
Ihr erstes Date mit ihm … war sie damals auch so aufgeregt gewesen? Nein. Damals war es ein vorsichtiges Herzklopfen. Heute dagegen? Heute war es ein elektrisierendes Kribbeln – wie ein neues, verboten schönes Spiel.

Kapitel 5 | Ein kribbeliges Abendessen

"Hallo Schatz!"
Nein, das klang falsch. So begrüßte sie ihn nie. Aber wie dann?
Plötzlich wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass sie sich nicht erinnern konnte. Jahrelang hatte sie Karl einfach angesprochen – ohne darüber nachzudenken. Dass ihr das egal gewesen war, machte sie nun traurig. Sie suchte angestrengt in ihrem Kopf, ja sogar im Tagebuch nach Hinweisen. Aber dort stand nichts über Begrüßungen.

Die Haustür ging auf.
"Hallo Johanna!"
"Hallo Karl!"

Er stellte seine Schuhe akkurat neben die anderen, hängte die Jacke an ihren Platz. Sein Gesicht blieb neutral – kein Verdacht, keine Regung, die verriet, dass sie aus der Rolle gefallen war. Offenbar hatte sie intuitiv den richtigen Code erwischt. Der Begrüßungskuss folgte. Auch er war wie immer: flüchtig, emotionslos, ein Ritual ohne Herz, aber immerhin ein Ritual.

Er setzte sich. Sie atmete aus.

"Hmmm, hier duftet es nach meinem Lieblingsessen."
Natürlich roch er den Braten.

"Ja, es gibt Schweinebraten mit Semmelknödel und Sauerkraut."

Sie stellte das Bier dazu, sie prosteten sich zu, und dann senkte sich die Stille über den Tisch. Das leiseste Klirren von Besteck und Teller schien heute lauter als sonst – oder bildete sie sich das nur ein? Eigentlich war ihr das ganz recht. Denn solange keiner sprach, konnte sie auch nichts Falsches sagen.

Doch ihr Kopf rauschte.
Was, wenn er sie beobachtete? Dieser Blick von ihm – war er immer so, oder merkte er etwas? Hielt sie das Messer heute schiefer als sonst? Stützte sie sonst auch manchmal den Ellbogen auf? Jeder Atemzug schien verdächtig.

Sie hatte ja nichts verbrochen – und doch etwas zu verbergen. Dieses kleine, kribbelnde Geheimnis in ihrem Herzen. Darum war sie so nervös.

"Wie war dein Tag?"
Verdammt. Warum musste er ausgerechnet jetzt reden?

"Eigentlich so wie immer", log sie, während sie starr auf ihr Fleisch sah, als müsste sie es operieren. "Und deiner?"

"Bei mir auch: Immer die gleiche Leier."

Beide senkten die Köpfe über ihre Teller, als wäre dort die Wahrheit versteckt.

Kapitel 6 | Ein kribbeliges Abendessen

So nervös war er schon lange nicht mehr gewesen. Vielleicht zuletzt, als er Johanna den Heiratsantrag gemacht hatte. Jetzt pumpte das Adrenalin wieder durch seine Adern – aber er musste da durch. Es war schließlich Teil seines Plans.

Denn er war der Verfasser.
Er war es, der die anonymen Briefe geschrieben hatte.

Er öffnete die Tür.
"Hallo Johanna!"
"Hallo Karl!"

Routiniert legte er Schlüssel und Jacke ab, stellte die Schuhe in Reih und Glied. Dann der Kuss. Normalerweise eine Geste ohne Nachdenken, ein 08/15-Ritual. Doch heute war es anders. Er dachte viel zu viel darüber nach. Wie lange? Wie kurz? Am liebsten hätte er eine Gebrauchsanweisung in Händen gehabt: "Der perfekte Begrüßungskuss für Eheleute nach 20 Jahren".

Zum Glück löste Johanna das Problem von selbst, indem sie sich wieder zurückzog. Erleichtert setzte er sich an den Tisch und war insgeheim stolz, dass er seine Fassade so gut hielt.

Dann kam der Duft. Schweinebraten, Sauerkraut, Semmelknödel. Dazu ein Bier. Wenigstens das war vertraut.

Doch Karl wusste: Heute war nichts mehr wie sonst. Heute war er nicht nur Ehemann, sondern auch der geheime Spielleiter in einer Geschichte, die Johanna noch nicht durchschaute.

"Wie war dein Tag?" fragte er, fast automatisch.
Mist. Was, wenn sie von den Briefen sprach?

Aber sie antwortete nur: "Eigentlich so wie immer."

Er atmete auf.
"Und deiner?"

"Immer die gleiche Leier."

Beide beugten sich wieder über ihre Teller. Nach außen hin ein Abendessen wie so viele zuvor. Doch in Wahrheit war die Bühne bereitet. Und Karl wusste: Das Spiel hatte gerade erst begonnen.

Kapitel 7 | Der schöne Hubert

Es war einige Wochen zuvor gewesen, an einem dieser Samstage, die wie ein graues Einerlei im Kalender verschwinden. Karl hatte nichts Besonderes vor, nur ein paar Schrauben im Baumarkt besorgen. Doch genau dort, zwischen Holzleisten und Dübelregalen, stolperte er mitten in die Vergangenheit.

Vor ihm stand: Hubert.
Der schöne Hubert.
Oder besser gesagt – der ehemals schöne Hubert.

Karl erkannte ihn sofort. Früher war er der, von dem alle sprachen. Breitestes Lächeln, lockere Sprüche, Haare, die aussahen wie frisch aus der Shampoo-Werbung. Heute dagegen wirkte Hubert … verbraucht. Die Schultern hingen, das Gesicht war von Falten zerfurcht, die Haare lichter, die Augen müde. Nur manchmal blitzte noch kurz der alte Glanz auf, bevor er wieder in Schatten fiel.

"Karl!", rief Hubert überrascht. "Ach, dich gibt's also auch noch!"

Sie gaben sich die Hand, und Karl war noch dabei, eine passende Begrüßung zu finden, da prasselte es schon auf ihn nieder. Hubert redete – nein, er klagte.
Von seiner Frau verlassen. Von Einsamkeit zerfressen. Von Fehlern, die er nicht rechtzeitig korrigiert hatte.

"Weißt du", sagte Hubert mit einer Stimme, die mehr kratzte als klang, "ich dachte immer: Es bleibt noch Zeit. Morgen vielleicht. Aber dann … war plötzlich kein Morgen mehr übrig."

Karl nickte stumm. Was hätte er auch sagen sollen? Schließlich kam ihm der Satz über die Lippen, der so banal wie wahr war:
"Ja … im Nachhinein ist man immer klüger."

Diese Worte hallten in ihm nach, noch als Hubert längst verschwunden war. Er sah ihm nach, wie er mit gebeugten Schultern davon trottete – ein Mann, der zu spät erkannt hatte, wie kostbar Liebe ist.

Und in Karl wuchs ein Entschluss.
Das passiert mir nicht.

Er wollte nicht warten, bis Johanna nur noch eine Fremde neben ihm war. Er wollte handeln – jetzt.

Karl, der Techniker, suchte nach einem Plan. Er kaufte heimlich Bücher über Ehe, Liebe, Romantik – und brachte die klugen Ratschläge auf einen Nenner. Acht Punkte, wie eine Skizze für das Herz.

  1. Mach ihr klar, dass sie einzigartig ist.
  2. Entschuldige dich, wenn du etwas Falsches getan hast.
  3. Sei kreativ und romantisch.
  4. Bleib geheimnisvoll.
  5. Hör ihr zu und schenke ihr volle Aufmerksamkeit.
  6. Rede mit ihr – auch wenn dir nichts einfällt.
  7. Verwöhne sie mit Zärtlichkeiten und schönen Worten.
  8. Sag ihr, dass du sie liebst. Immer wieder.

So wurde seine Idee geboren: die Romantische Schnitzeljagd.
Ein Spiel, das Johanna zurück ins Herz führen sollte.

Karl lächelte bei dem Gedanken. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte er sich nicht nur wie Ehemann – sondern wie Abenteurer.

Kapitel 8 | Duell auf Augenhöhe

Im Kaffeehaus saß Johanna und wartete. Frieda war immer zehn Minuten zu spät – darauf konnte man sich verlassen wie auf den Sonnenaufgang. Und tatsächlich, auf die Sekunde genau nach Frieda-Zeitrechnung öffnete sich die Tür. Johanna winkte, und Frieda kam lächelnd auf sie zu.

Nach den ersten Höflichkeiten griff Frieda plötzlich in ihre Manteltasche. Mit langsamer Geste zog sie einen Brief hervor – ihren Brief. Johanna erkannte das Kuvert sofort. Friedas Blick war durchdringend, als wolle sie ihr ohne Worte sagen: Erwischt!

Johanna spürte, wie ihr Herzschlag schneller wurde. Doch sie reagierte instinktiv. Fast gleichzeitig zog sie selbst ein Kuvert aus ihrer Handtasche hervor und legte es auf den Tisch.

"Schau, was ich diese Woche bekommen hab!"

Sie schlug den Brief auf.

Liebe Johanna, …

Frieda starrte auf die Zeilen. Natürlich kannte sie den Text – es war derselbe, den sie selbst bekommen hatte, nur mit anderer Anrede. Ihr Gesicht veränderte sich, als ob ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hätte.

Johanna nutzte die Gelegenheit und spielte die Überraschung perfekt. "Na so was! Das ist ja ein Ding, dass wir beide so einen Brief bekommen!"

Frieda nickte langsam. Johanna sah die Verwunderung in ihren Augen, und zum ersten Mal entspannte sie sich innerlich ein wenig. Dann lachten beide – ein bisschen zu laut, ein bisschen zu nervös.

"Vielleicht steckt ein Serientäter dahinter", sagte Frieda schließlich und nahm einen Schluck Kaffee.

Johanna musste husten, um ein zu verräterisches Lachen zu kaschieren. "Ja, wer weiß", erwiderte sie und stimmte in das Lachen ihrer Freundin ein.

Die beiden bestellten noch ein Stück Kuchen und begannen zu spekulieren. Johanna hatte das Gefühl, als säßen sie in einem Kriminalfilm. Sie war plötzlich wieder ein Mädchen, das mit der besten Freundin Geheimnisse austauscht, nur dass es diesmal um echte Briefe und echte Gefühle ging.

"Und wenn es der schöne Hubert ist?" warf Frieda irgendwann ein.

Johanna fühlte ein Kribbeln. Ja, warum nicht? Hubert – frisch geschieden, charmant wie eh und je, mit grauen Schläfen, die ihn fast noch attraktiver machten. Ein Teil von ihr gefiel dieser Gedanke sogar.

"Das wäre möglich …", sagte sie leise und nippte an ihrem Cappuccino.

Und während sie so dastand, zwischen Kaffeetasse und Kuchenkrümeln, ließ Johanna den Gedanken zu:
Vielleicht steckt wirklich der schöne Hubert dahinter. Und wenn ja – wäre das so schlimm?

Kapitel 9 | Tagträume mit Hubert

Seit dem Treffen mit Frieda ging Johanna der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf.
Der schöne Hubert.
Natürlich – wer sonst?

Sie stellte sich vor, wie er nach all den Jahren einsam in seinem Haus saß, mit zerzaustem Haar und melancholischem Blick, und plötzlich die Idee hatte: Ich schreibe Johanna einen Brief.
So ein romantischer Einzelkämpfer, der die Worte findet, die sie im Alltag so schmerzlich vermisste.

Am Küchentisch stützte sie das Kinn in die Hand und ließ ihrer Fantasie freien Lauf.
Vielleicht würde er ihr demnächst ein Kuvert in die Hand drücken – nicht mehr anonym, sondern ganz offen: "Von Hubert, deinem ewigen Verehrer."
Und vielleicht stünde er dann mit einem Strauß roter Rosen vor der Tür, ein bisschen verlegen, ein bisschen charmant, wie er es schon damals im Park gewesen war, als sie beide vierzehn waren.

Johanna musste lachen. Gott, was für ein Kitsch! Aber irgendwie schön.

Sie erinnerte sich an den Kuss hinterm Pavillon. Seine Hände waren zittrig gewesen, ihre Beine auch, und das Herz hatte so laut geschlagen, dass sie schwor, die Amseln müssten es gehört haben. Und dann – nichts. Jahre vergingen. Jeder war seinen Weg gegangen.
Und doch … jetzt war da dieser Gedanke, dass er vielleicht zurückgekehrt war, als Briefeschreiber, als Ritter aus der Vergangenheit.

Mit verträumtem Blick stand sie am Fenster und sah hinaus in den Garten. Ein Teil von ihr genoss dieses Kopfkino. Endlich wieder Herzklopfen. Endlich wieder ein Geheimnis, das sie lebendig machte.

Aber ein anderer Teil flüsterte ihr zu: Spinnst du, Johanna? Hubert? Ausgerechnet Hubert?

Sie schüttelte den Kopf und lachte leise über sich selbst. Und trotzdem … das Kribbeln blieb.

Am Abend griff sie zum Notizbuch, kritzelte "Hubert?" auf eine Seite und setzte ein dickes Fragezeichen dahinter. Dann lehnte sie sich zurück und ließ die Gedanken treiben.

Vielleicht würde schon bald ein neuer Brief kommen.
Vielleicht mit einem Hinweis.
Vielleicht sogar mit einer Einladung.

Und vielleicht – nur vielleicht – war es tatsächlich der schöne Hubert.

Kapitel 10 | Ein Albtraum

Karl saß in seinem kleinen Büro, das eher einer Kommandozentrale glich. Kabel schlängelten sich über den Boden, eine Lampe summte leise, als hielte auch sie den Atem an. Auf dem Schreibtisch drängten sich Kaffeetassen mit Ringen von alter Nervosität, daneben ein Notizblock voller krakeliger Ideen: "Überraschung = Herzklopfen", "Romantik + Technik = ?".
Doch im Mittelpunkt standen die Bildschirme. Vier an der Zahl. Jeder zeigte einen anderen Winkel des Hauses. Das Wohnzimmer. Der Flur. Die Küche. Und draußen den Blick zum Postkasten.

Seine Finger trommelten unruhig auf der Tischplatte. Er konnte spüren, wie ihm das Blut bis in die Schläfen pochte.
Heute ist der Tag. Heute findet sie das Paket.

Er lehnte sich nach vorne, so nah, dass sein Atem die Scheibe beschlug.
Wird sie sich freuen? Wird sie lächeln? Wird sie es spüren – dass ich es ernst meine? Oder wird sie mich durchschauen?

Er wusste, er trieb es zu weit. Kameras im ganzen Haus – das war nicht mehr romantisch, das war kriminell. Und doch … er konnte nicht anders. Er wollte sehen, wie ihre Augen glänzten, wenn sie die nächste Etappe der Schnitzeljagd entdeckte.

Und da – Bewegung auf dem Monitor.
Johanna öffnete die Haustür.

Karl hielt den Atem an. Schritt für Schritt ging sie zum Postkasten, nahm das kleine Paket heraus, schloss wieder die Tür. Nun trug sie das Päckchen in die Wohnung, legte sich damit auf die Couch.

Ja, genau so. Mach es auf. Bitte, mach es auf.

Sie riss den Karton auf.
Eine Rose kam zum Vorschein.
Johanna hob sie an die Nase, schloss kurz die Augen. Karl sog jede Bewegung auf, als wäre sie ein Liebesfilm nur für ihn. Dann entfaltete sie den Brief.

Schnell öffnete er das Word-Dokument auf seinem Rechner, um synchron mitzulesen:

Sieh diese Rose als Zeichen unserer damaligen Liebe.
Sie musste verwelken, um nun wieder aufs Neue erblühen zu können.

Karl grinste. Pathetischer Kitsch, der sonst so gar nicht zu ihm passte. Aber sie liebte genau diese Worte – er wusste es, weil er sie heimlich aus einem ihrer Bücher abgeschrieben hatte.

Schick mir ein Zeichen, wenn du bereit bist, diesen Weg voll Rosenblätter mit mir aufs Neue zu beschreiten.

Ein Augenblick der Stille.
Dann hob Johanna langsam die Hand – und winkte. Direkt in die Kamera.

Karl erstarrte.
Nein … das konnte nicht sein.

Sie kam näher.
Immer näher.
Ihre Hand griff nach der Linse.

Der Bildschirm wurde schwarz.

Und dann – ein Schrei.
Laut. Durchdringend. Wieder und wieder.

"Karl! Karl! Alles in Ordnung mit dir? Wach auf!"

Er fuhr hoch. Schweißnass, atemlos.
Neben ihm saß Johanna im Bett, hielt ihn an den Schultern. Ihre Augen waren voller Sorge.

"Du hast im Schlaf geschrien", sagte sie leise. "War es ein Albtraum?"

Karl nickte. Atmete tief ein, tief aus.

Ja, ein Albtraum. Aber die Idee mit den Kameras – die hatte er tatsächlich gehabt. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Und sofort wieder verworfen. Er war kein Stalker, kein Krimineller. Er war Karl.

Und doch musste er sich eingestehen: Seit er die Romantische Schnitzeljagd gestartet hatte, spukten ihm Gedanken durch den Kopf, die er früher nie gehabt hätte. Wilde, verrückte, manchmal beängstigende – aber auch überraschend kreative.

Karl legte sich wieder hin, zog die Decke bis ans Kinn.
Trotz allem musste er schmunzeln.
Denn eines stand fest: Er konnte den neuen Karl inzwischen ganz gut leiden.

Kapitel 11 | War er es wirklich? 

Was war nur mit Karl los? fragte sich Johanna. In letzter Zeit verhielt er sich … seltsam. Heute früh hatte er tatsächlich gekochte Eier serviert. "Abwechslung muss sein", meinte er, als wäre das eine kulinarische Offenbarung.

Auch die Zeitung hatte er im Rekordtempo durchgeblättert, und mit der gewonnenen Zeit führte er tatsächlich ein Gespräch – nicht Smalltalk, sondern fast schon Smalltalk mit Tiefgang. Und während er den Tisch abräumte, blickte er sie ständig an. Johanna fühlte sich dabei beobachtet – aber nicht unangenehm. Nein, da war ein anderes Gefühl, ein Kribbeln, das sie noch nicht benennen konnte.

Danach lief alles wieder nach Schema F. Toilette. Schuhe. Jacke. Spiegelkontrolle. Krawatte. Seitenscheitel. Abschiedskuss. Die einstudierte Choreografie ihres Alltags. Sie hörte das Auto wegfahren – und war wieder allein.

Allein mit der Vorfreude.

Es war eine Woche vergangen, seit der zweite Brief ins Haus geflattert war. Wenn der unbekannte Verehrer nach System vorging – und das vermutete sie stark – dann musste heute die nächste Botschaft kommen. Sie saß am Fenster, ungeduldig wie ein Kind am Nikolaustag, und starrte hinaus.

Endlich bog das gelbe Auto um die Ecke. Johanna huschte hinter den Vorhang. Der Postbote stieg aus, Motor lief weiter, ein leises Klacken im Briefkastenschlitz – dann eine Tür, die ins Schloss fiel, und das Auto rollte wieder davon.

Mit pochendem Herzen schlich sie zum Postkasten. Kein Brief. Ein kleines Paket.

Auf der Couch angekommen, siegte die Neugier. Ohne Umschweife riss sie das Päckchen auf. Darin lag eine einzelne Rose, dunkelrot und wunderschön. Johanna hob sie an die Nase, schloss die Augen – und spürte, wie Erinnerungen aufblühten.

Sie entfaltete den beigelegten Brief. Nein, sie las nicht – sie verschlang jedes Wort.

Sieh diese Rose als Zeichen unserer damaligen Liebe. Sie musste verwelken, um nun wieder aufs Neue erblühen zu können.

Johanna stockte der Atem. Damals. Ja, damals war sie verliebt gewesen. Vor langer Zeit. In ihn.

Schenk mir ein Zeichen, wenn du bereit bist, diesen Weg voll Rosenblätter mit mir aufs Neue zu beschreiten.

War es wirklich Hubert?
Warum eigentlich nicht? Er war nun geschieden, das Dorf sprach ohnehin über seine Rückkehr in die Welt der Frauen. Alles ergab plötzlich Sinn. Selbst der erste Brief: Vielleicht wollte er sich entschuldigen, dass er ihr nach dem Kuss im Park aus dem Weg gegangen war.

Johanna lächelte in sich hinein. Hubert, der schöne Hubert. War er es wirklich?

Doch eine Frage brannte sich sofort in ihren Kopf:
Welches Zeichen sollte sie ihm geben?

Kapitel 12 | Entlarvt

Die nächsten Stunden verbrachte Johanna damit, anonyme Briefe anzufertigen. Das ging erstaunlich schnell: Nur noch den Namen in der Begrüßung austauschen, auf "Drucken" klicken – fertig. Kein großer literarischer Kraftakt, aber hoffentlich ein kleiner Lichtblick für die Empfänger.

Nebenbei recherchierte sie im Internet. Alte Bekannte, ehemalige Studienfreunde, fast vergessene Nachbarn – erstaunlich leicht waren Telefonnummern und Adressen aufzuspüren. Klick für Klick wuchs ihre Excel-Liste, und damit das Gefühl, ein richtiges Projekt gestartet zu haben.

Zufrieden betrachtete sie den Stapel frisch gefalteter Briefe. Wieder dieses Kribbeln – dasselbe wie damals bei ihrem ersten anonymen Schreiben. Mit fast diebischer Vorfreude packte sie die "heiße Ware" in eine Tragetasche. Als Tarnung legte sie ein Halstuch darüber und verteilte diverse Damenutensilien obendrauf. Ein perfekter doppelter Boden, dachte sie stolz. Niemand würde Verdacht schöpfen.

Am Postamt angekommen, öffnete sie noch einmal verstohlen die Tasche, um sich zu vergewissern: alles da, alles sicher. Sie stieg aus dem Auto, atmete tief durch und ging Richtung Schalter. Hoffentlich war heute wieder dieselbe unaufmerksame Beamtin da – das würde ihre Mission erheblich erleichtern.

Doch so weit kam sie nicht.

"Hallo Johanna!"

Das Herz rutschte ihr in die Hose, und die Tasche gleich hinterher. Der Inhalt kippte in Zeitlupe auf den Gehsteig, Umschläge und Papier flatterten wie weiße Vögelchen davon. Mit klopfendem Herzen bückte sie sich, um die Spuren ihres Doppellebens zu verwischen.

"Warte, ich helfe dir!"

Ausgerechnet Frieda.

Johanna wollte protestieren, doch da hatte ihre Freundin schon zugegriffen – und hielt ein Beweisstück in der Hand.

"Ist es das, wonach es aussieht?" Friedas Blick war eine Mischung aus Detektivin und strenger Lehrerin. "Hast du auch anonyme Briefe geschrieben?"

Johanna schluckte. "Ja." Mehr brachte sie nicht heraus.

Einen Moment lang hielten sich ihre Blicke fest. Dann zwinkerte Frieda verschwörerisch.

"Ich auch."

Johanna starrte sie an. "An wen?"

Frieda grinste breit. "Das errätst du nie!"

Kapitel 13 | Zwei Komplizinnen

Im Kaffeehaus saßen Johanna und Frieda beisammen. Sie hielten die Köpfe dicht zusammen und sprachen leise, fast verschwörerisch.

Johanna konnte ihre Neugier nicht mehr zurückhalten.
"Na, sag schon, Frieda – wem hast du geschrieben?"

Frieda hob abwehrend die Hand. "Nicht so schnell! Erst der Reihe nach."

Sie erzählte: "Am Anfang habe ich mich einfach nur über den anonymen Brief gefreut. Ich habe überlegt, von wem er wohl sein könnte."

Johanna beugte sich gespannt vor. "Und? An wen hast du gedacht?"

"Ehrlich gesagt … an dich", antwortete Frieda und sah Johanna direkt in die Augen. "Ich habe dich als Erste verdächtigt."

Johanna schüttelte schnell den Kopf. "Aber das stimmt doch nicht."

"Nein," sagte Frieda, "inzwischen weiß ich das auch. Das kannst du nicht gewesen sein."

Johanna lächelte erleichtert. Gut, dachte sie, dann ist sie überzeugt.

Frieda fuhr fort: "Aber ich habe mir gedacht: Warum soll ich warten? Ich kann doch selbst auch jemanden überraschen. Ich habe den Text fast eins zu eins abgeschrieben – nur den Namen habe ich geändert."

Johanna hielt den Atem an. "Und? Wem hast du geschrieben?"

Frieda grinste und machte eine kleine Pause. Dann flüsterte sie: "An Hubert."

"Was? An den schönen Hubert?" rief Johanna leise, fast erschrocken.

"Ja, genau an ihn!" Frieda nickte bekräftigend. "Jetzt hat auch er Post von mir bekommen."

Einen Augenblick sahen sich beide an. Dann mussten sie lachen – erst leise, dann lauter. Schließlich hielten sie sich die Servietten vor den Mund, damit das ganze Kaffeehaus nicht mitbekam, dass zwei Komplizinnen hier gerade ihr Geheimnis teilten.

Kapitel 14 | Zerbrich dir nicht den Kopf

Der schöne Hubert saß in seiner Küche, die leerer wirkte, seit Helga nicht mehr da war. Vor ihm auf dem Tisch lag der Brief, den er bereits zum zehnten Mal gelesen hatte. "Zerbrich dir nicht den hübschen Kopf" stand da zum Schluss. Doch genau das tat er nun seit Stunden.

Ja, es freute ihn, dass da jemand war, der offenbar noch an ihn dachte. Das tat richtig gut. Aber wer? Wer hatte diese Zeilen geschrieben? Insgeheim hoffte er, es sei Helga – seine Helga –, die ihm auf diese rätselhafte Weise vielleicht eine zweite Chance geben wollte.

Und wenn es so wäre … oh, er würde diese Chance nutzen. Dieses Mal würde er es besser machen. Mehr Aufmerksamkeit, mehr kleine Geschenke, Blumen, Schmuck – alles, was er früher versäumt hatte. Vor allem aber: er würde ihr zuhören, statt sich ablenken zu lassen.

Hubert dachte an Karls Worte, die er neulich gehört hatte: "Man wird klüger, wenn's schon fast zu spät ist." Ja, Karl hatte recht. Nur blöd, dass man die klugen Einsichten meist erst bekommt, wenn die Ringe schon abgelegt sind.

Sein Blick schweifte aus dem Fenster, doch sein Kopf war längst in der Vergangenheit. Damals, im Studium, hatte er Helga kennengelernt. Sie war der Star – alle Männer liefen ihr nach. Aber nur er, Hubert, hatte sie für sich gewonnen. Bald war sie schwanger, die Schwiegereltern drängten zur Hochzeit. Ihm war das recht, er liebte sie ja. Die Flitterwochen, das erste Ehejahr – pures Glück.

Doch mit den Kindern, Simon und Sebastian, wurde es komplizierter. Helga war mit Haushalt und Kindererziehung ausgelastet, er dagegen … hatte zu viel Zeit. Und zu viele Gelegenheiten. Was sollte ein Mann denn tun, wenn junge Damen mit verführerischem Lächeln zweideutige Angebote machten? Immer Nein zu sagen, sei biologisch unmöglich, redete er sich ein. Und außerdem – es war ja nie ernst. Geliebt hatte er nur Helga.

Das alles hatte er auch der Scheidungsrichterin erklärt. Doch die Richterin hatte kein bisschen Verständnis gezeigt. Stattdessen wanderte das Mitleid zu Helga. Und mit dem Mitleid gleich das Haus. Und der Mercedes. Hubert blieb nur ein kleines Apartment, die Kinder durfte er immerhin ab und zu sehen. Helga bekam … alles. Sogar den Tennislehrer.

Hubert starrte wieder auf den Brief. "Zerbrich dir nicht den Kopf."
Zu spät. Sein Kopf war längst ein Trümmerhaufen aus Reue, Sehnsucht und einem winzigen Rest Hoffnung.

Kapitel 15 | Rosengrüße zurück 

Mit einem langen Seufzer ließ sich Johanna auf die Couch fallen. Endlich war sie wieder allein. Das war knapp gewesen! Fast wäre sie aufgeflogen, als ihr die Briefe aus der Handtasche geflattert waren. Zum Glück hatte Frieda ihren nervösen Blick nicht bemerkt. Auch der rasende Puls und die feuchten Hände waren allein ihr Geheimnis geblieben. Das Schicksal hatte es also noch einmal gut mit ihr gemeint – Johanna durfte weiterhin die anonyme Briefattentäterin spielen.

Und das Beste: Sie hatte schon eine Komplizin. Frieda! Die hatte doch tatsächlich einen Brief an den schönen Hubert geschrieben. Eigentlich eine gute Idee, dachte Johanna – und beschloss, es genauso zu machen.

Gesagt, getan. Sie würde ihm ebenfalls schreiben. Ihr fiel sofort das Paket mit der Rose und dem poetischen Brief ein, das sie so bewegt hatte. Auf Rosenwegen mit dir … – dieser Gedanke war schön. Inspiriert begann sie zu tippen.

Die erste Version wurde wieder gelöscht – zu dramatisch.
Die zweite – zu persönlich.
Die dritte – zu kindisch.
Die vierte – öd und langweilig.

Schließlich entschied sie sich für das Motto: In der Kürze liegt die Würze.

"Danke für die Rose, lieber Hubert!"

Wenn er Mister Anonym war, würde er die Botschaft verstehen. Und wenn nicht – nun ja, dann würde die Sache einfach im Sand verlaufen. Kein Risiko, nur ein Spiel.

Doch bevor sie den Brief eintütete, nahm Johanna noch einmal den dritten anonymen Brief zur Hand. Sie sog die Worte in sich auf. Wie konnte ein Mann nur so etwas Schönes schreiben? Vielleicht steckte in Hubert tatsächlich eine romantische Ader, die sie nie für möglich gehalten hätte.

Plötzlich stockte sie. Irgendetwas kam ihr seltsam bekannt vor. Sie runzelte die Stirn, stand auf und griff zielstrebig nach einem Buch aus dem Regal. Wenige Sekunden später hatte sie die richtige Seite gefunden.

"Sieh diese Rose als Zeichen unserer damaligen Liebe. Sie musste verwelken …"

Den Rest konnte sie auswendig mitsprechen. Wort für Wort identisch mit dem Brief.

Johanna stand da, den Brief in der einen, das Buch in der anderen Hand – und musste lachen. Kopfschüttelnd setzte sie sich wieder auf die Couch.

Natürlich, der Verfasser hatte die Zeilen abgeschrieben. Kein Dichtergenie, sondern einfach ein guter Abschreiber. Aber was machte das schon? Immerhin hatte er die Mühe auf sich genommen, nach den passenden Worten zu suchen – und sie in Szene zu setzen.

Manchmal, so dachte Johanna, war Romantik vielleicht gar nicht die große Kunst, sondern schlicht die Geste. Die Idee. Das Spiel.

Und genau dieses Spiel begann ihr mehr und mehr zu gefallen.

Kapitel 16 | Die gute, alte Zeit

Frieda schlenderte gemächlich vom Kaffeehaus nach Hause. Ihre Schritte hatten etwas Schwebendes, als ob sie ein kleines Geheimnis mit sich trug, das sie jünger machte. Ja, es war tatsächlich schön, wieder einmal mit Johanna so herzlich geplaudert zu haben. Und noch schöner war es, dass sie nun ein gemeinsames Geheimnis verband. Diese verschwörerische Nähe ließ Frieda fast kichern wie ein Teenager.

"Die gute, alte Zeit", murmelte sie vor sich hin und musste schmunzeln.

Unwillkürlich tauchte sie ab in Erinnerungen. Damals, als Johanna ihr zum ersten Mal von diesem Kuss erzählt hatte – im Park, hinter dem Pavillon. Johannas erster Kuss, eine große Sache. Nur: Hubert war da schon geübter. Eigentlich viel zu geübt. Schon damals hatte er ein Händchen dafür, die Herzen der Mädchen gleich reihenweise zu sammeln wie Briefmarken. Und nach dem Sammeln kam das Tauschen – nur dass Hubert seine "Sammlung" ungern wieder hergab.

Selbst als verheirateter Mann blieb er der Schwarm vieler Frauen. Frieda hatte es mit eigenen Augen gesehen: wie die Mädchen in der Disco, später die Frauen bei Vereinsfesten, ja selbst die Mütter bei Elternabenden – alle hatten diesen Glanz in den Augen, wenn der schöne Hubert den Raum betrat. Manche tuschelten, manche kicherten, andere gaben sich betont unbeeindruckt. Aber alle, wirklich alle, nahmen ihn wahr.

Und Hubert genoss das. Zu sehr.

Frieda seufzte. Jetzt war er schon seit einiger Zeit wieder "am Markt", frei und offiziell zu haben. Doch die große Nachfrage von früher war irgendwie versiegt. Kein Blitzlichtgewitter mehr, kein Gedränge an seiner Seite. Stattdessen sah er heute oft traurig aus, fast verloren. Und das, obwohl er noch immer ziemlich gut aussah. In Badehose hätte er glatt Mitch aus "Baywatch" Konkurrenz machen können.

Warum also kein Happy End in Sicht? Vielleicht lag es an diesem verzweifelten Funkeln in seinen Augen, wenn er mit einer Frau sprach. Zu viel Druck. Zu sehr auf der Suche. Fast schon ein bisschen … abturnend.

Ja, der einstige Casanova war auf einmal kein strahlender Held mehr, sondern ein Mann, der sein Selbstvertrauen verloren hatte.

Und da kam Frieda dieser verrückte Gedanke: Vielleicht konnte man ihm genau dieses Selbstvertrauen zurückgeben – mit einem anonymen Brief, so liebevoll und geheimnisvoll, dass er sich wieder begehrt fühlte.

Sie musste grinsen. "Ja, das war eine gute Idee", dachte sie. Und wer konnte schon ahnen, dass diese kleine Idee bald viel größere Kreise ziehen würde …

Kapitel 17 | Auf der Jagd

Ein zweiter anonymer Brief lag vor Hubert. Und wieder musste er sich seinen hübschen Kopf zerbrechen. Er war noch nie besonders schlau gewesen, doch aus diesen Zeilen wurde er auch nicht schlauer.

"Danke für die Rose, lieber Hubert."

Was sollte das bedeuten? Er hatte doch seit Ewigkeiten niemandem mehr Rosen geschenkt. War das so etwas wie umgekehrte Psychologie? Man bedankt sich im Vorhinein für etwas, das man sich im Nachhinein wünscht?

Warum nicht. Hubert beschloss, das Spiel mitzuspielen. Ja, er würde seiner geliebten Helga wieder eine Rose schenken. Doch einfach bei ihr klingeln? Und womöglich Boris, der Tennislehrer, öffnet die Tür? Nein. Das Risiko war zu groß.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er an die letzte Begegnung mit Boris dachte. Betrunken hatte er ihn damals zum Duell herausgefordert – ein Desaster. Nur knapp war er mit einem blauen Auge davongekommen. Das sollte nicht noch einmal passieren.

Er würde es anders machen. Listiger. Wie ein Jäger, der sein Wild beobachtet, ehe er zuschlägt. Früher war er ein erfolgreicher Schütze gewesen, und diese Erfahrung konnte er nutzen. Also besorgte er sich in der Stadt alles, was er brauchte, und fuhr hinaus zu Helgas Haus.

Es lag einsam in der Landschaft – weit und breit keine Nachbarn. Perfekt für sein Vorhaben. Hubert legte die Handschuhe an, der Feldstecher um den Hals. Er sah, wie Helga und Boris das Haus verließen, Sporttasche im Schlepptau. Tennis. Das verschaffte ihm Zeit. Sein Puls raste, als er den Kofferraum öffnete.

Rosen. Dutzende Rosen.

Er nahm die erste in die Hand. Zart, beinahe ehrfürchtig. "Eine für dich, meine Helga." Mit einem kleinen Spaten grub er die Erde auf. Feucht und schwer roch sie nach Frühling, nach Neubeginn. Der Schweiß lief ihm schon nach den ersten Minuten von der Stirn. "Verdammt, das ist Arbeit … aber Liebe darf Arbeit sein. Ja, Liebe ist Arbeit. Und diesmal mache ich sie mir."

Er setzte die Rose ein, klopfte die Erde fest. Dann die nächste. Wieder bücken, graben, drücken, Erde an die Finger, Dornen an den Handschuhen. Er keuchte, doch er spürte dabei auch einen seltsamen Stolz. "Wenn sie das sieht … sie wird wissen, dass ich es ernst meine. Keine Ausrede, kein Gerede, sondern Rosen. Rosen sprechen ihre eigene Sprache."

Die Minuten dehnten sich. Der Himmel färbte sich langsam ins Spätgoldene. Hubert schnaufte, richtete sich auf, streckte den Rücken. Seine Knie taten weh, sein Shirt klebte an ihm. Aber wenn er den Blick zurückwandte, konnte er schon eine kleine Allee erkennen. Rot auf Schwarz, zarte Blüten entlang der Einfahrt.

Er lächelte, ganz kurz, und grub weiter.

Während er arbeitete, kamen Erinnerungen. Das erste Mal, als er Helga Blumen schenkte – damals im Studium. Eine einzelne Nelke, billig, aber sie hatte gestrahlt, als wäre es ein ganzer Strauß. Später hatte er aufgehört damit. "Zu beschäftigt … zu müde … keine Zeit …" Ausreden. Immer nur Ausreden. Er biss die Zähne zusammen, schob die nächste Rose in die Erde.

"Helga, diesmal keine Ausreden."

Nach einer Stunde war sein Rücken steif, seine Hände voller kleiner Kratzer. Die Rosenreihe wurde länger. Immer wieder blickte er zur Straße, lauschte, ob sich ein Motor näherte. Nichts. Nur das rhythmische Scharren des Spatens, sein schweres Atmen, das dumpfe Klatschen der Erde.

Noch eine Rose. Noch eine.

"Vielleicht war das mit Boris nur eine Phase. Vielleicht merkt sie irgendwann, dass er nicht der Richtige ist. Tennis, Muskeln, ja … aber wo bleibt die Seele? Ich hab Seele, Helga. Ich hab sie nur zu spät gezeigt."

Er lachte leise, bitter, während er die nächste Rose einsetzte. Ein Hund bellte in der Ferne.

Die Zeit zerrann. Seine Knie waren taub, sein Rücken brannte. Er atmete Staub und Blütenduft zugleich. Und doch – mit jeder Rose fühlte er sich lebendiger. Fast so, als würde er Stück für Stück wieder gutmachen, was er all die Jahre versäumt hatte.

Als er die letzte Rose festdrückte, war es beinahe dunkel. Ein Schauer lief ihm über den Rücken – diesmal nicht von Erregung, sondern von purer Erschöpfung. Zwei Stunden hatte er gearbeitet wie ein Besessener. Vor ihm lag nun ein rotes Meer, das sich vom Gartentor bis zur Haustür zog. Ein stilles Versprechen aus Blüten.

Und genau in diesem Moment – Motorengeräusch. Scheinwerferlicht.

Helga und Boris waren zurück.

Panisch warf sich Hubert hinter die Hecke. Er presste sich in die Erde, Herz klopfend bis zum Hals. Der Bewegungsmelder sprang an, tauchte die Einfahrt in helles Licht.

Helga blieb wie verzaubert stehen. "Was ist das für eine bezaubernde Überraschung?" Sie schlug die Hände vors Gesicht, Tränen glänzten in ihren Augen. Dann wandte sie sich zu Boris: "Hast du das gemacht? Hast du diese Rosen für mich einpflanzen lassen?"

Boris zog sie stolz an sich. "Natürlich, mein Liebling. Für dich tu ich alles."

Und Hubert lag im Dreck, die Erde kalt im Gesicht, die Rosen duftend vor seinen Augen – Rosen, die nun Boris gehörten.

Kapitel 18 | Vier Hände und ein Rücken 

Zuhause angekommen, stellte Johanna die Tasche in die Ecke und nahm eine lange Dusche. Das warme Wasser prasselte auf ihre Haut, während sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Hubert hatte nun also schon zwei Briefe bekommen. Und was bedeutete das für sie? Eigentlich nichts. Wenn er tatsächlich der geheimnisvolle Autor der Liebes-Rätsel-Rallye war, würde er wohl unbeirrt weitermachen.

Eine neue Komponente kam jedoch hinzu: Frieda. Offenbar hatte sie ein Auge auf den schönen Hubert geworfen. Vielleicht wollte sie sogar mehr als nur eine Brieffreundschaft. Johanna konnte es ihr nicht verdenken. Immerhin war Frieda schon viele Jahre geschieden und hatte seitdem keine feste Beziehung mehr. Da lag es nahe, sich so ein "Sahnetörtchen" zu sichern – wie Frieda es selbst formuliert hätte.

Johanna hingegen war verheiratet. Mit Karl. Kein Sahnetörtchen, eher ein gemütlicher Teddybär. Das störte sie nicht, im Gegenteil. Sie mochte seinen Bauch, den er sich über die Jahre angefuttert hatte. Aber gekuschelt wurde längst nicht mehr. Die einzigen Berührungen waren flüchtige Begrüßungsküsse und das übliche "Gute Nacht". Mehr nicht.

Wie wäre es, mit Hubert im Bett zu landen? Diese Frage kam Johanna plötzlich in den Sinn. Er wusste sicher, was Frauen wollten. Schließlich hatte er kaum eine Gelegenheit ausgelassen, das zu trainieren. Und seltsam: Sie empfand dabei überhaupt kein schlechtes Gewissen. Karl hätte es wohl nicht einmal bemerkt, wenn sie nackt durchs Haus getanzt wäre. Und falls doch, hätte er sie ermahnt, sich etwas anzuziehen, um nicht krank zu werden.

Johanna trat aus der Dusche, trocknete sich ab und betrachtete ihr Spiegelbild. Für ihr Alter war sie durchaus zufrieden: schlank, kaum Falten, trotz null Sport erstaunlich straff. Ob Hubert wohl große Brüste bevorzugte? Vermutlich hatte er ohnehin alle Varianten ausprobiert und wusste mit jeder umzugehen.

Sie schloss die Augen und ließ ihre Gedanken schweifen. In ihrer Vorstellung waren es plötzlich nicht mehr ihre eigenen Hände, die über ihren Körper strichen. Nein – in ihrer Fantasie gehörten sie Hubert. Kräftig, sicher, vertraut. Sie stellte sich vor, wie er ihre Arme massierte, ihre Finger ergriff, sie ineinander verschränkte und wieder löste – ein kleiner Tango, der nur in ihrem Kopf tanzte. In Gedanken wanderten seine Berührungen über ihren Bauch, hinauf zu ihren Brüsten, dann zu Nacken und Hals. Warm, selbstbewusst, voller Leidenschaft.

"Johanna …" flüsterte eine Stimme.

Sie lächelte benommen.

"Johanna?" wiederholte die Stimme – diesmal deutlicher.

Erschrocken öffnete sie die Augen. Im Spiegel stand Karl hinter ihr.

"Bist du verspannt? Soll ich dich massieren?" fragte er mit seiner ruhigen, alltäglichen Stimme.

Johanna nickte. Ja, sie war verspannt. Und ja, sie brauchte genau das jetzt.

Seine Hände legten sich auf ihre Schultern, wanderten sanft über ihren Rücken. Er konnte es noch, dachte sie überrascht. Mit jeder Bewegung lockerte er die Verkrampfungen, die das warme Wasser nicht hatte lösen können.

Sie atmete tief durch, während ihre Gedanken langsam zur Ruhe kamen. Vielleicht war es am Ende gar nicht so wichtig, wessen Hände sie gerade spürte – Hauptsache, sie spürte wieder etwas.

"Danke, Karli", flüsterte sie leise.

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